2.4.1 Beispiel 4: Umgang und Interpretation von Zahlen

Beispiel 4: Umgang und Interpretation von Zahlen

Zahlen sind zunächst nur numerische Ziffern, und nicht jede Ziffer kann von jedem ›begriffen‹ werden, und zwar in dem Sinne, dass die inhaltliche Bedeutung oder auch Tragweite einer solchen Zahl verständlich bzw. nachvollziehbar wird. Zahlen, beispielsweise Geldbeträge in Größenordnungen von einigen Hundert Euro sind jedem geläufig, weil jeder damit schon einmal umgegangen ist. Bei Dimensionen, die auf mehrere Tausender lauten, ist das schon seltener und bei fünf- oder sechsstelligen Summen dürfte dies dann – wenn überhaupt – die Ausnahme sein. Entsprechend reagiert auch die individuelle Wahrnehmung auf solche unterschiedlichen Zahlen.

Zahlen – bwz. die realen Gegenwerte in DM oder Euro –, die im eigenen Erfahrungsbereich liegen, werden anders registriert als Summen, die man allenfalls aus den Medien kennt. Meldungen z.B., nach denen eine gerade Pleite gegangene Firma Schulden in Höhe von 150 Millionen Euro hinterlassen habe, lösen sehr viel weniger Verständnis aus als der zusätzliche Hinweis, dass ein solcher Betrag dem Bruttojahreseinkommen von rd. 4.000 Durchschnittsverdienern entspreche. Oder dass man sich davon 6.000 Einfamilienhäuser nebst Grundstück im Wert von 500.000 DM oder 10.000 Kleinwagen kaufen könnte. Finanzpsychologen sprechen im Kontext solch selektiver Wahrnehmung beispielsweise bei Geld von »Psychophysik der relativen Preise«.

Den Verlust des eigenen Nachbarn von einigen Hundert oder Tausend Euro kann jeder nachempfinden; der Verlust einer mehrstelligen Millionensumme hingegen liegt ohne lebensnähere Umrechnung außerhalb des Vorstellungsvermögens eines in ›durchschnittlichen‹ Einkommens- und Vermögensverhältnissen lebenden Menschen. Von Milliardenbeträgen wollen wir erst gar nicht reden.

Ein solches Phänomen kann sowohl den recherchierenden Journalisten selbst betreffen als auch dessen Rezipienten. Anders gesagt: Zahlen – und statistisch aufbereitete Daten erst recht – sollten regelmäßig auf ihren Aussagegehalt geprüft werden. Zum einen, um den Rezipienten besser an die wirkliche Bedeutung heranführen zu können, zum anderen, um sicherzugehen, dass man nicht selbst einer zahlenmäßigen und/oder statistischen Wahrnehmungstäuschung aufsitzt.

Auf drei zahlenmäßige bzw. statistische Phänomene sei hier hingewiesen, über die man nicht stolpern sollte:

1) Durchschnittszahlen:
Durchschnittswerte sind zunächst eine mathematisch formalisierte Rechengröße. Man sagt auch Mittelwert dazu, der sich einfach dadurch errechnet, indem man die beobachtbaren Zahlenwerte addiert und danach durch die Anzahl der beobachteten Zahlenwerte (bzw. so genannten Merkmalsträger) dividiert. So ermittelte Durchnittswerte müssen aber nicht unbedingt die Wirklichkeit abbilden, wie man häufig glaubt.

Beispiel: Das Durchschnittseinkommen von zwei Personen. Eine verdient 1.000 €, die andere Person 9.000 €. Das „statistischen Mittel“ beträgt 5.000 €. Und dies, obwohl dieser Wert real überhaupt nicht existiert!

Zwar steigt nach dem »Gesetz der Großen Zahl« – eine Theorie aus der Wahrscheinlichkeitsmathematik – mit zunehmender Anzahl von einzelnen Zahlenwerten die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Durchschnittswert als solcher de facto vorkommt, zwingend indes ist dies nicht. Mit Durchschnittszahlen, an deren Glaubwürdigkeit sich jeder gewöhnt hat, kann man im Einzelfall gegebenenfalls eine Welt oder eine Situation vortäuschen, die es so gar nicht gibt.

Und noch eine Besonderheit ist damit verbunden, die man wissen sollte: Sogenannte statistische Ausreißer, also Zahlenwerte, die extrem von allen anderen Zahlen, die man beobachten und zählen kann, abweichen, wirken sich ganz drastisch auf die numerische Höhe des statistischen Durchschnittswertes aus.

Um beim Beispiel der statistischen Einkommensverteilung zu bleiben: Kommt zu einer wie auch immer gearteten Durchschnittszahl ein Millionär (oder Milliardär) hinzu, so steigt der Mittelwert sprunghaft an. Käme zum obigen Beispiel ein absoluter Spitzenverdiener mit 50.000 € hinzu, so würde der statistische Mittelwert auf 20.000 € springen und damit doppelt so hoch liegen als das, was die beiden geringer Verdienenden zusammengenommen an Einkommen haben.

Durchschnittszahlen haben so gesehen einen nur sehr begrenzten Aussagewert. Sinnvoller wäre es, unterschiedliche Zahlen bzw. Realitäten, die man beschreiben möchte, genau so auch zu beschreiben. Oder beispielsweise in einzelne Gruppen, z.B. Einkommensklassen zusammenzufassen und dabei darauf hinzuweisen, wie groß die Anzahl derer ist, die eine solche Einkommensgruppe repräsentieren. Also: soundoso viele haben wenig, soundso viele haben mehr und soundso viele haben viel, usw..

2) Prozentwerte:
Prozentzahlen geben nur dann einen Sinn, wenn man die dazu gehörige Bezugsgröße kennt.
Dies ist der Wert, auf den sich die Prozentziffer bezieht.

Beipiel: Eine Leistungssteigerung von »80%« kann de facto eine geringere Leistung darstellen als der Wert von beispielsweise »5%«. Entscheidend ist die nämlich die Ausgangsbasis. Versinnbildlicht sei dies am (albernen, aber eindrucksvollen) Beispiel eines Mohrenkopf-Esswettbewerbs: Sieger ist der, der innerhalb einer Minute seine Leistung steigern kann. Person A schafft üblicherweise 60 Mohrenköpfe pro Minute zu verschlingen, also pro Sekunde einen – eine überaus beachtliche Leistung, die man eigentlich nicht mehr überbieten kann. Eine Steigerung trotzdem um 3 Mohrenköpfe von 60 auf 63 entspricht einem Zuwachs von »+5%«.

Person B verspeist 5 Mohrenköpfe innerhalb von 60 Sekunden, also alle 12 Sekunden einen. Eine Leistungssteigerung um zusätzlich 4 Mohrenköpfe entspräche somit »+80%«.
Tatsächlich ist, was wohl jeder konzedieren wird, die Steigerung bei A eindrucksvoller bzw. größer, weil bereits das Ausgangsniveau (hier: Ausgangsleistung) einen absoluten Spitzenwert darstellt, das zu toppen eigentlich unmöglich ist. Eine mäßige Leistung hingegen zu steigern, ist so schwierig nicht.

In reinen prozentualen Zahlen kommt dies deshalb nicht zum Ausdruck, weil das Ausgangsniveau nicht benannt ist. Man spricht deshalb auch von Niveau-Effekt. Im Klartext soll dies bedeuten: Reine Prozentzahlen, die keine absolute Zahlenwerte zusätzlich angeben, auf die sie sich beziehen (Ausgangswert oder damit erreichter Endwert, von dem aus man rückrechnen kann), sind absolut unbrauchbar. Man sollte sie einfach vergessen und rundweg nicht benutzen!

3) Indexzahlen:
Auch deren Aussagekraft steht und fällt mit dem Basiswert, auf den sie sich beziehen. Konkret sind Indexzahlen (Indexziffern) auf einen einheitlichen Bezugspunkt (Bezugswert) umgerechnete absolute Zahlenwerte, die jetzt zu prozentual lesbaren (Index-)Ziffern geworden sind.

Beispielhaft sei auf die Darstellung von Aktienkursen verwiesen, wie sie sich im Zeitablauf nach unten und/oder oben entwickeln können. Von Bedeutung ist vor allem der Umstand, dass sich damit unterschiedliche Bilder bzw. Wahrnehmungen ›zaubern‹ lassen – je nachdem, wann man den Bezugszeitpunkt setzt, von dem an man rechnet bzw. die Zahlenwerte grafisch sprechen läßt: vom Gipfel aus gesehen, von dem es nur noch nach unten gehen kann, oder von unten aus, von wo aus sich eine (zwangsläufige) Entwicklung nach oben als gigantische Zunahme oder auch Leistungssteigerung darstellen läßt.

Ganz generell gilt: ›Manipulieren‹ ist nicht nur mit diesen Extremen, sondern an jeder x-beliebigen Stelle möglich, weil die daran anschließende grafische und/oder zahlenmäßige Darstellung aller weiteren Zahlen genau von diesem Auswahlpunkt abhängt, der aber immer beliebig ist. So wird das berühmte Zitat von Winston CHURCHILL verständlich, der klipp und klar zu verstehen gab, dass er nur jener Statistik Glauben schenken würde, die er selbst gefälscht habe.

Detailliertere Erklärungen zur Darstellung mit Index-Werten und konkrete Beispielrechnungen, etwa zur Umrechnung und dies bei unterschiedlichen Bezugsgrößen, nehmen vergleichsweise viel Raum in Anspruch. Aus eben diesem Grund soll dies (zumindest derzeit) hier nicht mehr geleistet werden. Vielmehr sei – und dies nicht nur deswegen – auf ein ebenso vergnügsam wie aufschlussreich zu lesendes Buch verwiesen, dass sich mit solchen, aber auch anderen relevanten Fragen ausführlich auseinander setzt: »So lügt man mit Statistik« (KRÄMER 1991).

Konkrete Empfehlung im Umgang mit Index-Präsentationen: Alle Darstellungen, seien sie grafisch oder tabellarisch präsentiert, mit ihren originären und unbehandelten Zahlenwerten vergleichen und stichprobenartig überprüfen, ob die verarbeiteten Daten bewußt irreführend oder sinnvoll und nüchtern präsentiert sind.

Der weiter oben erwähnte Umstand, weshalb es auch für einen IR-Journalisten Sinn machen kann, sich mit einigen Grundüberlegungen zum Stichwort ›Umgang mit Zahlen, Daten und Statistiken‹ zu befassen, nämlich um nicht – im schlechtesten Fall – einer Täuschung aufzusitzen, ist nur einer von mehreren Gründen. Weit wichtiger sollte das Ziel sein, Zusammenhänge oder Realitäten, die sich hinter Zahlen verbergen, nicht zu übersehen, will sagen: dafür einen geschärften Blick zu entwickeln. Auch deshalb sei das eben zitierte Buch zum Umgang mit Statistik wärmstens zur detaillierteren Lektüre empfohlen.