Zwei Fallbeispiele – Ergänzung zu Kapitel 3.2

Das erste Beispiel ist älteren Datums, aber geradezu klassisch und deswegen für Zwecke des Verstehens, was „Einkreisen“ bedeutet, nach wie vor aktuell. „Eine ganz normale Recherche“ hat  Leo MÜLLER seinen Text genannt. Er war damals (1998) Journalist im Düsseldorfer Büro des Hamburger Magazin stern, später bei cash und für Capital in Zürich. Heute arbeitet er für das schweizerische Wirtschaftsmagazin Bilanz.

„Normal“ ist die gründliche Recherche, nicht aber die Geschichte, denn sie greift eine dreiteilige Story aus „Focus“ auf, die sich nach Recherchen des „stern“ in Wirklichkeit ganz anders darstellt. Weshalb die Rechereche hier beispielhaft vorgestellt wird, ist die klare analytische Beschreibung des Vorgehens und der Probleme dabei. Leo MÜLLER hat diesen Beitrag 1998 ursprünglich für das Buch von Thomas LEIF (Herausgeber) geschrieben: „Leidenschaft Recherche“, das im Westdeutschen Verlag, Opladen, und inzwischen in zweiter Auflage erschienen ist. Autor, Herausgeber und Verlag haben freundlicherweise die Präsentation auf dieser Website gestattet.

Leo MÜLLER’s Geschichte, die eigentlich als eine (einzige) größere Geschichte vorgesehen war und zunächst so auch erschienen war, hatte sich letztlich auf fünf Folgen verlängert: Sie ist nach der Veröffentlichung einfach weiter gegangen. Nachzulesen in den „stern“-Ausgaben 20/98: 206-208; 21/98: 184-185 (inkl. einer Gegendarstellung von Helmut MARKWORT); 27/98: 162; 11/1999: 250-253 sowie 12/99: 234-235.

Mit freundlicher Genehmigung der stern-Redaktion können wir sogar alle fünf Berichte im Anschluß an die Recherche-Rekonstruktion präsentieren.  Die „Focus“-Vorgängergeschichte in drei Teilen ist dokumentiert in den Ausgaben 42/97: 46-48; 43/97: 48-49 und 44/97: 36-37.

Hier geht es zu Leo MÜLLER (stern): ‚Eine ganz normale Recherche‘

 

Beispiel Numero zwei stammt aus der Zeit der Nachwehen des großen Aktienbooms um die Jahrtausendwende und die Ernüchterung danach. Die ganze Geschichte kam nur durch ein gerüttelt Maß an Hartnäckigkeit zustande. Die Journalistin Renate Daum, damals Redaktionsmitglied beim Anlegermagazin BÖRSE ONLINE in München (damals zum Verlagshaus Gruner + Jahr, Hamburg, gehördend), war Unstimmigkeiten und Widersprüchen so lange nachgegangen – konkret: nachgefahren, nämlich nach Asien – , bis sie Belege für das hatte, was ihr aufgefallen war und was sie irgendwann dann auch konkret vermutet hatte: dass es da nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Viele ihrer Zwischenergebnisse hatte sie veröffentlicht. Die Aktionäre wollten ihr nicht glauben. Auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG war anderer Meinung – sie testierte alles, was die fragliche Firma, das Telematikunternehmen „ComRoad AG“ aus Unterschleißheim bei München, an gefälschten Informationen und Papieren produzierte. Natürlich begann auch das fragliche Unternehmen ComRoad zu drohen.

Die Journalistin ließ sich nicht einschüchtern. Sie konnte sich aber auch auf die Rückendeckung ihrer Redaktion verlassen.

Ergebnis ihrer Recherchen: Seit November 2002 sitzt der Verantwortliche, der Ex-Vorstandsvorsitzende Bodo Schnabel, im Knast – für 7 Jahre.

Renate Daum, die für ihren journalistischen Mut im Jahre 2002 den „Helmut-Schmidt-Journalistenpreis für kritischen Wirtschafts- und Verbraucherjournalismus“ erhalten hatte, rekonstruiert hier ihre Recherche, die 1999 begann. Wer sich für die vielen Details interessiert, wieso die fragliche Firma – ebenso wie viele andere auch – so ungeniert andere täuschen konnte (durfe), kann das in einem Buch der Journalistin nachlesen: Renate Daum: Außer Kontrolle. Wie ComRoad & Co Deutschlands Finanzsystem austricksen. München: FinanzBuch Verlag 2003, 256 S., 24,90 €

Hier geht es zum Making-of ihrer Recherchen Börsenschwindel und Bilanzbetrug