Fallbeispiel: Treuhandanstalt Halle – Ergänzung zu Kapitel 3.5.1

Der im Folgenden rekonstruierte Fall einer Zusammenarbeit zwischen dem Boulevardblatt Mitteldeutscher Express in Halle (seit 1995 eingestellt und seinerzeit zur Verlagsgruppe DuMont, Köln, gehörig) sowie der Neuen Württembergischen Zeitung (NWZ), Regionalausgabe Göppingen, ist eher untypisch, zeigt aber einmal mehr, wie sinnvoll Arbeitsteilung nicht nur bei den Recherchen, sondern wie unverzichtbar eine Kooperation auch auf der publizistischen Ebene sein kann: Ohne die gegenseitige Schützenhilfe wären vermutlich nicht nur einzelne Recherchen im Sande verlaufen, sondern auch der publizistische Druck auf die Ermittlungsbehörden verpufft. Es hätte keine Gerichtsverfahren wegen Bestechung und Untreue gegeben, die maßgeblichen Akteure säßen vergnüglich auf ihren im Ausland gebunkerten Millionen und rund 2.000 Beschäftigte in Mitteldeutschland hätten ihre früheren Arbeitsplätze nicht mehr.


In Halle gibt Anfang 1992 die Niederlassung der dortigen Treuhandanstalt (THA) stolz bekannt, dass sie als eine der Ersten ihren Job erledigt und jede Menge ehemals als »volkseigen« geltender Betriebe privatisiert, sprich für die Marktwirtschaft fit gemacht habe. Aufgrund eines internen Hinweises prüfen kurz darauf Berliner THA-Revisoren ein mutmaßliches Insider-Geschäft: Der THA-Vize, eine Abteilungsleiterin sowie der Privatisierungschef sollen an einen für die THA Halle tätigen »Berater« eine GmbH veräußert haben, deren einziges Betriebsvermögen in einer propperen Villa besteht. Verkaufspreis des Firmenmantels bzw. indirekt der Immobilie: eine (einzige) Deutsche Mark (0,51 €), obwohl ein anderes Kaufangebot in Höhe von einer Million DM (rd. 510.000 €) vorlag. Die Revision mündet in eine Anzeige, und diese zieht eine Durchsuchung der THA sowie der Privatwohnungen der an diesem Geschäft Beteiligten durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart nach sich, denn die hochrangigen und in Verdacht geratenen THA-Manager kommen alle aus dem Süden und hatten dort zuletzt ihr Ein- und Auskommen, zwei von ihnen als Beamte der Polizei.

Der zuständige Redakteur beim Mitteldeutschen Express in Halle erfährt nur von der Durchsuchung, und dies aus einer dpa-Meldung, und will einen Artikel aufsetzen. Aus Interesse stattet er der fraglichen Immobilie zuvor einen Besuch ab und staunt nicht schlecht, als sich das Gebäude als vollkommen durchsaniertes und hochnobles Firmenanwesen entpuppt. Es sieht nach Geschäftsbetrieb aus. In der ersten Etage residiert laut Firmenschild die »MUB – Mitteldeutsche Unternehmensberatungs GmbH«. Der Redakteur macht die Probe aufs Exempel: In den holzgetäfelten Büros mit einer Ausstattung vom Feinsten sitzt er plötzlich zwei THA-Managern gegenüber, die ausgesprochen wichtig tun, einigermaßen arrogant auftreten und dem Redakteur unaufgefordert bedeuten, dass »alle Vorwürfe haltlos« seien. Mit einer Einladung zur demnächst stattfindenden Firmengründungsfeier der MUB versehen eilt der Journalist an seinen Schreibtisch zurück, um den Redaktionsschluss nicht zu versäumen. Danach gerät die Geschichte in Vergessenheit, denn mehr als er geschrieben hat, kann er nicht schreiben: Er weiß nicht mehr.

Ein Vierteljahr später erhält die Redaktion eine Einladung zu einem Pressegespräch, das die IG Metall Halle anberaumt: über die schlechte Arbeitsmarktlage im Allgemeinen und insbesondere im Raum Halle. Der IG Metallchef gibt einem abgesandten »Freien« eine Botschaft für den Express-Redakteur mit auf den Weg: Bei einigen Firmen, die neuerdings einem Mittelständler namens Wolfgang G. aus dem Westen gehörten, gehe es offenbar nicht so ganz mit rechten Dingen zu: Mitarbeiter würden entlassen, obwohl der »Investor« das Gegenteil und darüber hinaus Investitionen in Millionenhöhe vertraglich zugesagt habe. Außerdem würde irgendwie Geld in den Firmen fehlen.

Beim Namen »Wolfgang G.« klingelt es beim Redakteur, er weiß nur noch nicht warum – bis er sich an eine Einladungskarte erinnert, die er aus einem seiner Aktenhaufen hervorfischen kann. Dort prangt auch der Name: Wolfgang G. als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Fa. MUB, die in der noblen Villa domizi­liert.

Der Express-Redakteur zieht alle Register: Anfrage bei einer Wirt­schaftsauskunftei, Nachfrage bei diesem und jenem. Von nun an regelmä­ßige Anrufe bei der Staatsanwaltschaft, ob gegen gewisse Firmen bzw. de­ren Investor etwas vorliege und ob Zusammenhänge zur MUB bzw. deren Gesellschafter bekannt wären, enden jeweils ergebnislos – der Express-Redakteur fragt bzw. checkt zwar ständig alle neue Erkenntnisse gegen, aber die Staatsanwaltschaft hält sich bedeckt. Allerdings baut sich auch beim Staatsanwalt langsam ein Bild über die aktuelle Situation der Wolfgang-G.-Firmen in Halle und Umgebung auf, das sich aus den recherchierten Informationen des Express-Redakteurs nährt: Mehrere Metallbetriebe im Westen, 14 von der THA erworbene und damit privatisierte Betriebe im Osten – fünf davon bezahlt, die restlichen nicht. Statt zugesagter Investitionen: Entlassungen. An Stelle aktiver Produktionstätigkeit: Vermietung der firmeneigenen Grundstücke und Immobilien.

Wie es der Zufall will: In der Göppinger Redaktion der Neuen Württembergischen Zeitung (NWZ) laufen über einen privaten Draht zur gleichen Zeit einige Informationen bzw. Nachfragen aus Halle ein: In einer Firma eines Wessi-Investors, der aus Göppingen stamme, gehe anscheinend nicht alles mit rechten Dingen zu – ob man denn in Göppingen etwas wisse?

In Göppingen weiß man etwas über Wolfgang G.: Er gilt als das, was man einen ehrenwerten und gestandenen Unternehmer nennt. Der hat nicht nur eine Firma, die Mercedes Benz zuliefert. Er ist auch Mitglied in allen wichtigen Gremien – vom Golfclub bis zum IHK-Präsidium. Vor allem aber gehört er zu jenen, die auch Hand anlegen – jetzt beim Aufbau des Ostens!

Erste Recherchen jedoch machen die Göppinger Redaktionsleiterin stutzig. Ihre Nachfragen bei diesem und jenem, u.a. beim Betriebsrat und den Gewerkschaftsbüros in Göppingen und Halle, lösen erste anonyme Zusendungen aus, die nicht so recht zu dem guten Leumund des jetzt im Osten aktiven Investors passen wollen. Sie entscheidet sich von vorneherein für einen ihrer effektivsten Arbeitsschritte: Sie ruft beim Express-Kollegen in Halle an, von dessen Recherchen sie inzwischen erfahren hat. Und der darf seine Geschichte, die er nach seinen beiden ersten Veröffentlichungen weiter vorangebracht hat, nicht veröffentlichen.

Es beginnt das, was man eine effiziente Kooperation nennt. So werden die ersten Informationen und zusammengetragenen Unterlagen ausgetauscht. Weil zwei Teams gleichzeitig recherchieren, beschleunigt sich auch das Tempo der Erkenntnisse, und innerhalb eines Monats zeichnet sich ein schlüssiges Bild ab: Die gesamte Unternehmensgruppe des Wolfgang G. aus Göppingen mit 2.000 Arbeitnehmern befindet sich offenbar in einer absolut desolaten finanziellen Lage. Die NWZ, die hartnäckig an der Geschichte dranbleibt und vor allem in die Tiefe recherchiert, kann inzwischen belegen, dass Gelder nicht nur hin und hergeschoben werden, vornehmlich auf das Privatkonto von Wolfgang G., sondern dass der Investor auch betrügerische Handlungen vornimmt: So war beispielsweise der Gegenwert einer eingetragenen Grundschuld in Höhe von 2 Mill. DM (rd. 1,023 Mill. €) von einer der Halle’schen Firmen auf dem Banküberweisungsträger zunächst korrekt für ein firmeneigenes Konto vorgesehen. Dort aber kam es nie an: Der Investor hatte den Überweisungsträger nachträglich manipuliert und so landeten die zwei Millionen auf einem seiner Privatkonten, dieses Mal in Heilbronn.

In Kenntnis all dieser Dinge ruft in Halle beispielsweise der Express-Redakteur bei der THA-Pressestelle an, um einige Informationen zu verifizieren. Er wird mit dem Hinweis auf einen Rückruf vertröstet. Zum Rückruf kommt es nicht. Stattdessen taucht nur eine knappe Stunde später der Pressesprecher der THA höchstpersönlich in der Redaktionsstube auf und hat auch gleich einen Gast mitgebracht: den Investor Wolfgang G. – er sei »sozusagen auch ein bisschen der private Pressemann des Unternehmers«.

Wolfgang G. schwitzt. Mit hochrotem Kopf weist er auf die Gefahren einer Veröffentlichung hin: Imageverlust, Kündigung der Kreditlinien, Arbeitsplätze futsch. Zum Schluss fühlt sich der Investor bemüßigt zu drohen: Auch er sei Mitglied der FDP, ebenso wie der Express-Verleger, und beide zudem gut bekannt mit dem amtierenden FDP-Außenminister GENSCHER. Da solle er mal aufpassen!

Der Express-Redakteur lässt sich nicht einschüchtern, der Chefredakteur schon: Er gibt eine Veröffentlichung nicht frei. In Göppingen sieht man die Situation anders. Die NWZ publiziert einen ausführlichen Artikel: »Metaller werfen Greiner Betrug vor. Bellino-Chef soll im Osten Firmen nur der Immobilien wegen gekauft haben – Geschäftspartner im Zwielicht«. Die Story läuft unter dem Namen der Göppinger Journalisten inklusive des Express-Redakteurs aus Halle und bringt den Stein so richtig ins Rollen.

Denn inzwischen hat auch die IG Metall Halle reagiert und ganz offiziell Anzeige erstattet: die Staatsanwaltschaft muss jetzt ermitteln. Jetzt kann sich auch der Chefredakteur des Mitteldeutschen Express nicht mehr verweigern und gibt grünes Licht. Von jetzt an wird die ganze Geschichte publizistisch zum Selbstläufer – für die NWZ wie für den Mitteldeutschen Express.

Die Staatsanwaltschaften in Halle und insbesondere in Stuttgart mussten darauf ermitteln. Im Grunde genommen ist es immer das gleiche Problem: Staatsanwälte haben meist einfach viel zu viel zu tun, können daher nicht alles mit gleicher Sorgfalt machen und konzentrieren sich dann auf einzelne Fälle, wenn Druck entsteht – z.B. seitens der Medien.

Während im Westen die ersten Firmen erst in Vergleich, dann in Konkurs gehen, aber aufgefangen werden, kann die THA in Halle und Berlin, die Staatsanwaltschaften sowie ein Untersuchungsausschuss im Bonner Bundestag nur noch konstatieren, dass im Osten rund 34 Millionen DM (rd. 17 Mill. €) fehlen. Pfändungen und Arreste gegen Wolfgang G. laufen ins Leere – ein Großteil des Geldes ist längst via Luxemburg bei einer Briefkastenfirma auf Curacao gelandet. Inzwischen ist auch klar, dass die ehemaligen THA-Manager, die inzwischen gefeuert wurden, mit Wolfgang G. gemeinsame Sache gemacht hatten: Zuschlag und günstige Kaufpreise gegen Bestechung. Knapp sechs Millionen DM (3 Mill.€) sind dabei geflossen. Einer der Ex-THA-Männer, ein ehemaliger Polizist aus Sindelfingen, wird in Florida geschnappt. Im Strafprozess vor dem Stuttgarter Landgericht Anfang 1995 macht Wolfgang G. einen Deal mit der Staatsanwaltschaft: Er packt aus, und dafür werden nur sechs Fälle (statt 21) verhandelt. Trotzdem verkünden die Richter ein vergleichsweise hohes Strafmaß: 5 Jahre und 3 Monate ohne Bewährung, etwas mehr für den ersten der beiden männlichen Ex-THA-Manager. Die Firmen im Osten können weitgehend wieder verkauft werden, so dass der größte Teil der 2.000 Arbeitsplätze gesichert ist.

Auf dem Höhepunkt der Berichterstattung, als der Investor im Sommer 1993 verhaftet wurde bzw. in U-Haft musste, lief die Geschichte bundesweit in allen Medien (z.B. SPIEGEL 27/1993: 96 f). Wie das in Deutschland (leider) so gängige journalistische Praxis ist: Nirgendwo ist zu lesen, wer die eigentlichen Initiatoren dieser Story sind. Die Göppinger NWZ-Kollegen Susanne LEIMSTOLL und Joa SCHMID sowie der Express-Redakteur Reimund SCHWARZ erhalten allerdings 1994 den ersten Preis des »Wächterpreis der Tagespresse 1993« (zweiter Preis: Süddeutsche Zeitung/ Amigo-Affäre; dritter Preis: Hamburger Morgenpost/Bestrahlungsskandal).