Journalistisches Crowdsourcing: „Forbrydelsen“ / „Das Verbrechen“

Die Kurzfassung (in 1.250 Zeichen)

Das folgende Beispiel einer fast einjährigen Berichterstattung mit nachhaltigen politischen Folgen entstand u.a. durch aktive Leser bzw. User der dänischen Tageszeitung „Berlingske Tidende“ sozusagen durch journalistisches Crowdsourcing: Die eigenen ‚Kunden‘ wurden zu Informanten. Ausgangsfall: Ein Autobahnunfall, der sich als Mord entpuppte. Nicht durch Ermittlungen der Polizei, sondern durch die Recherchen zweier Redakteure, Morten CRONE und Morten FRICH. Das strukturelle Problem, das sie dabei ausmachten: Die Polizei kommt nicht (immer), wenn man sie braucht.

Ein flächendeckendes Phänomen? Um das herauszufinden forderten die Journalisten ihre Leser auf, derlei Beispiele zu melden. Ergebnis: in 14 Tagen 200 Fälle. 74 davon arbeiteten die Redakteure ebenfalls auf – u.a. übersichtlich dokumentiert auf einer interaktiven Karte online, die schnell zum journalistischen Hit in Dänemark wurde.

Dabei wurde der öffentliche Druck so groß, dass der Justizminister eine eigene Untersuchung in Auftrag geben musste. Und auf über 300 Fälle kam. Politische Folge Nr. 1: Der für Dänemarks Polizei zuständige Beauftragte musste seinen Hut nehmen. Folge Nr. 2: Die erst kürzlich durchgeführte Polizeireform wurde wieder rückgängig gemacht.

So kam die Geschichte in Gang. Im Original „Forbrydelsen“, übersetzt: „Das Verbrechen“

Ein anonymer Telefonruf im Januar 2008 in der Redaktion in Kopenhagen: Ein Crash an einem Brückenpfeiler, bei dem ein Mann und eine Frau starben, hätte die Polizei als normalen Unfall abgetan. Aber: Wenn die Redakteure recherchieren würden, fänden sie einen Mörder. Dazu gab der Anrufer zwei Hinweise: auf eine Schrebergartengegend sowie einen Hafen, wo Hausboote liegen. Dort könne man fündig werden.

Keine sehr präzisen Informationen. Aber über den Blick ins eigene Archiv liess sich schnell das fragliche Datum ausmachen – auch andere hatten eine Notiz über den „Unfall“ – in wenigen Zeilen. Schnell war auch das Feuerwehrteam ausgemacht: Die Frau lag tot auf der Betonpiste, der sterbende männliche Fahrer saß hinterm Steuer eines schwarzen Audi und hauchte gerade sein Leben aus.

Zumindest war jetzt der Vorfall bestätigt. Eine Geschichte war das nicht. Morten CRONE, der Redakteur, der den anonymen Anruf entgegen und ernst genommen hatte, wusste, dass er die nächsten Schritte in seiner Freizeit tun musste – neben seiner sonstigen täglichen Arbeit. Bzw. immer mal wieder zwischendurch.

Einer seiner ersten Schritte: eine Excel-Tabelle, in der er alle weiteren Informationen akribisch zusammentragen wollte (siehe Kapitel Chronologie) . Z.B. die Adressen in der Gartenlaubenkolonie, die er bisher vergeblich abgeklappert hatte, um zu erfahren, ob jemand etwas über den „Unfall“ wisse. Eines Tages hatte er Erfolg. Der Laubenbesitzer, der ihm öffnete, erklärte ihm als erstes, er habe schon die ganze Zeit auf einen Journalisten gewartet. Und berichtete, zweitens, seine Erlebnisse:

Am 26. November letzten Jahres habe er vor dem Nachbargrundstück einen schwarzen Audi stehen sehen, der noch nie dort zu sehen war. Und wenig später laute Schreie aus dem Nachbarhaus gehört. So laut, dass er den Eindruck hatte, dass dort eine weibliche Person um ihr Leben fürchten musste. Er habe daraufhin die Polizei alarmiert. Nicht einmal, sondern 4 Male. Die wollte nicht kommen, empfahl ihm, selber mal hinüber zu gehen und den Nachbarn um eine Erklärung zu bitten. Also habe er beim Nachbarn geklingelt, der hatte seinen Kopf aus der Tür gesteckt, meinte dann, alles sei in Ordnung.

Der Laubenbesitzer war alles andere als überzeugt. Und habe deshalb erneut bei der Polizei angerufen. Wieder ohne Erfolg. Und als Beleg legte er Morten CRONE einen Zettel vor, auf dem die Autonummer stand. Und er zeigte ihm die Telefonrechnung, auf der die Anrufe bei der Polizei gelistet waren. Jetzt nahm die Geschichte ein klein wenig Gestalt an: Die Polizei, die nicht hilft.

Das Rettungsteam vom Unfallort konnte auf Nachfrage weitere seltsame Details nennen. Die beiden Insassen seien in mittlerem Alter gewesen, untypisch für einen klassischen Selbstmord per Crash an einen Brückenpfeiler. Das war zumindest die Einschätzung der Feuerwehrleute. Und merkwürdige Dinge haben im Auto gelegen: Kabelbinder, Gummihandschuhe, ein langes Messer, dazu Klebeband, ein Gewehr mit einer Patrone. „Es sah aus, als habe hier jemand ein Verbrechen geplant“, so einer der Rettungsmänner. Und sie zeigten Morten CRONE Fotos: Es war derselbe Audi mit jenem Kennzeichen, das ihm der Laubenbesitzer genannt hatte. Und was Morten CRONE jetzt ebenfalls wusste: Der tote Fahrer war der Nachbar, der auf Nachfrage meinte, alles sei in Ordnung.

Versuche des Journalisten, Zeugen des Chrash zu finden, schlugen fehl. Die Fotos der Rettungsleute gaben nicht mehr her. Jedenfalls konnte Morten CRONE nichts weiter Ungewöhnliches entdecken. Die Polizei weigerte sich, mit weiteren Informationen herüber zu kommen, stufte den Unfall weiterhin als zwar „tragisch“, aber als ganz ‚normales‘ Vorkommnis ein. Die Recherche war damit ersteinmal zu Ende.

Immer wieder starrte der Jounalist auf die Fotos. Sah nichts. Tagelang. Irgendwann stellte er sich die Frage: Was siehst Du genau? Ging jeden Quadratzentimeter durch.

Irgendwann fiel sein Blick auf etwas, was er schon mehrfach gescannt haben musste: Auf einem der Fotos war hinter dem gecrashten Audi ein LKW zu sehen, beladen mit Stroh. Der nächste Gedanke: Die Autobahn führte direkt ins Zentrum von Kopenhagen. Was in aller Welt wollte ein LKW mit Stroh im Herzen der Hauptstadt? Morten CRONE kannte die Antwort. Konnte sie geben, weil er früher auch in kleineren Lokalredaktionen vor den Toren der Großstadt gearbeitet hatte: Eine Autobahnausfahrt weiter gab es ein Elektrizitätswerk, das altertümlich mit Stroh befeuert wurde.

Den fraglichen Fahrer unter allen LKW-Fahrern ausfindig zu machen, war telefonische Routinearbeit. „Stroh-John“, wie er genannt wurde, fuhr direkt hinter dem Audi, als der plötzlich mit hohem Tempo ruckartig bremste, eine Laternenpfahl umnietete und danach dann gegen den Betonpfeiler krachte. Die Beifahrerin war durch die Wucht des Aufpralls offenbar aus dem Auto geflogen. „Stroh-John“ hatte nur eine Erklärung zu dem, was er unmittelbar vor sich gesehen hatte: Da wollte sich jemand bewusst in den Tod stürzen. Helfen konnte er jedenfalls nicht mehr, nur den nachfolgenden Verkehr warnen und einen Notruf absetzen.

Nun kannte Morten CRONE Details, für die sich die Polizei offenbar nie interessiert hatte. Details, die aber noch keine Erklärung boten. Also zurück zu Hafengegend, wo die Hausboote lagen und wo bei den ersten Außenrecherchen – neben dem Klinkenputzen in der Gartenlaubenkolonie – niemand etwas von einem Autounfall wusste. Oder wissen wollte.

Diesesmal war er erfolgreichreicher. Eine Inspektorin der Hafenbehörde machte ihm klar, dass über das, wofür er sich interessieren würde, niemand reden wollte. Darüber, dass eine Frau ihren Mann von hier nebst Tochter für einen anderen verlassen hatte. Die Frau zog dann irgendwann wieder zu ihrer Familie zurück. Der sich betrogen fühlende Lover indes gab nicht auf, begann die Frau zu stalken und ihre gesamte Familie zu bedrohen: durch nächtliche Telefonanrufe, Droh-Emails, Auflauern. Die Frau begann um ihr Leben zu fürchten. Dann der Unfall, bei dem sie und der sie bedrohende Lover ums Leben kamen.

Normalerweise gehen die Redakteure von Berlinske nicht auf Unfallopfer zu, um sie auszuquetschen. Doch diesesmal sah die Sache anders aus: Der Witwer wusste wahrscheinlich nicht, dass seine Frau geplantermaßen umgebracht worden sein könnte.

Der Witwer, der sich alles anhörte, sprach nicht viel, nahm aber Morten CRONE’s Angebot zur Kenntnis, ihm einiges zur Vorgeschichte zu erzählen mit der Option, jederzeit den „roten Knopf“ drücken zu können: Der Journalist würde dann auf der Stelle aufhören, ihn weiter zu befragen oder seine Informationen zu verwenden. Wenn der Schalter auf „grün“ stünde, würde CRONE alle Informationen aus den nächsten Recherchen mit ihm teilen. In jedem Fall würde CRONE an der Sache dranbleiben – mit oder ohne ihm.

Nachdem sich der Witwer einige Wochen danach wieder in der Redaktion meldete, konnte die Geschichte weitergehen. Der Witwer beklagte sich bitterlich, dass ihm die Polizei nichts zum Ablauf des Unfalls sagen wollte, war daher dankbar für die Informationen von Morten CRONE. Weil CRONE jetzt auch einiges über den ‚Mörder‘ wusste, war klar, dass dies eine Geschichte geben würde. Weniger über die persönliche Tragik des Geschehens. Sondern über die Polizei. Die hätte den Vorfall verhindern können, wenn sie nach den mehrfachen Telefonanrufen aufgetaucht wäre. Ein klassischer Fall von Polizeiversagen?

Doch Einblick in die Polizeiakten war nicht möglich. Andererseits wollte man nicht aufgeben. Denn klar war: Es gab einen Mörder und einen Selbstmord. Und man würde dies beweisen müssen. Aber nur als einmaligen Fall? Gab es möglicherweise mehr solcher Vorfälle von Polizeiversagen? Würde die Polizei solche Vorwürfe auf sich sitzen lassen?

Deswegen war ebenso klar, dass die weiteren Recherchen auf höchstem Präzisionsniveau laufen und alle journalistischen und juristischen Standards eingehalten werden müssten. Das lief (erneut) auf Arbeit hinaus. Auf viel und vor allem gründliche Arbeit.

Morten CRONE war ab sofort nicht mehr allein. Ein weiterer Kollege, Morten FRICH gesellte sich zu ihm und beide wurden jetzt zu einem speziellen Investigativteam, angesetzt nur auf diese Geschichte.

Klar war ebenso: Man musste mit der Familie des stalkenden Lovers, konkret seiner „Ex“ reden. Aber die wollte nicht und ebensowenig die Tochter. Über eine genealogische Datenbank fanden CRONE und FRICH aber andere Verwandte. Aber die wollten ebenfalls nichts sagen. Weil sie offenbar nichts wussten.

Im Normalfall laufen Recherchen so, dass man jene, um die es geht und die sich über eine Berichterstattung nicht freuen, erst spät, manchmal erst ganz kurz vor der Deadline einweiht. Bzw. sie mit den Fakten konfrontiert. Aus unterschiedlichen Gründen. Manchmal um zu verhindern, dass ein Objekt/Subjekt der Recherche nicht die Geschichte kaputt macht, indem die fragliche Person eine Pressekonferenz abhält und den Angriff nach vorne praktiziert. Manchmal auch, um gerichtliche Untersagungsverfügungen zu verhindern. Weil für die beiden Journalisten immer noch viel im Dunkeln lag, entschieden sie sich für die gegenteilige Strategie. Und gingen auf das Justizministerium zu, offenbarten, was sie wussten. In der Hoffnung, weitere Informationen zu erhalten. Zum grundsätzlichen, konkret: zum strukturellen Problem dieses Falls.

Und das lag in der groß angelegten Polizeireform ein Jahr zuvor. Viele Polizeistationen wurden aufgelöst, weil die Politik mehr Beamte auf die Strasse, sprich näher zu den Bürgern bringen wollte. Beim Durchforsten anderer Lokalzeitungen fanden CRONE und FRICH eine ganze Reihe von Kurzmeldungen, aus denen hervorging, dass die Polizei schön öfters mal nicht erschienen war, wenn jemand angerufen hatte.

Beim Checken des Polizeireports zur Zeit des fraglichen Crashs fanden sie beispielsweise heraus, dass es genügend Polizisten gab, die nicht in einem Einsatz waren und die auf die vierfachen Telefonanrufe des Laubenbesitzers hätten sofort anrücken können. Andererseits: Es herrschte offenbar Chaos in der Station. Viele Polizeibeamte hatten nun andere Aufgaben, andere Funktionen waren überbesetzt, es fehlte an Schreibtischen und es gab kein internes Telefonbuch, das aktuell gewesen wäre.

Die Antworten des Justizministeriums, des Nationalen Polizeibeauftragten sowie des Polizeichefs des Distrikts waren schwammig und wenig konkret. Das könne immer mal passieren, dass Fehler vorkommen. Der fragliche Unfall sei tragisch, aber ein Einzelfall. Man bedaure.

Soweit so gut, soweit so schlecht – CRONE und FRICH hatten eine Geschichte, eine Homestory, aber mehr auch nicht. Man könnte sie auch in Verbindung mit einer misslungenen Polizeireform bringen, aber mehr eben auch nicht. Wieder und wieder diskutierten sie alle Details und Aspekte, wechselten die Blickwinkel – einen ganzen langen Tag: über die Frage, was erzählt die Geschichte wirklich?

Bis sie darauf kamen. Anfangs noch recht diffus, nach und nach aber verdichtete sich der Fokus auf die Frage:

Ist die Polizei da, wenn man sie wirklich braucht? Also: Nicht nur, wenn man sie einfach anruft? Sondern wenn es wirklich notwendig ist? Zum Beispiel, wenn es um Leben oder Tod geht?

Dieses neue Rechercheziel gab jetzt den weiteren Weg vor. Klar war, dass man das nicht an einem Einzelfall festmachen konnte. Eine breit angelegte wissenschaftliche Untersuchung über die flächendeckende Effektivität der Polizeireform kam ebensowenig in Frage. Aber man könnte ja in Erfahrung bringen, wie oft die Polizei nicht kam, wenn Bürger um dringende Hilfe riefen.

Weil es inzwischen Mai geworden war und die Redaktion wissen wollte, wann die Geschichte druckreif wäre, begannen sie zweigleisig zu arbeiten: Die Homestory über den Crash wurde in 3 Artikel geteilt. Der erste war eine Rekonstruktion des Tages, als der Crash geschah. Insbesondere wie der Gartenlaubenbesitzer vergeblich versucht hatte, die Polizei zu alarmieren. Teil zwei nahm das Chaos in der fraglichen Polizeistation ins Visier. Der letzte Bericht stellte auf die Situation des Witwers und dessen Familie ab.

Parallel dazu ging es um den Aufbau eine multimedialen Website, für die sie Jesper WOLDENHOF von der Onlineredaktion mit ins Boot holten. Der schlug eine landesweite interaktive Karte von Dänemark vor, auf der man entsprechende Meldungen seitens Leser eintragen könnte. Gleichzeitig traf er Vorbereitungen, das Projekt über facebook und twitter zu vernetzen.

Und ein weiteres Mitglied kam hinzu: ein erfahrener Fotograf – u.a. auch im Umgang mit Videokamera, Erik REFNER. Der sollte ein nicht nur einminütiges YouTube-Video erstellen, sondern vor allem Menschen interviewen, die sich melden würden. Und deren Geschichte man sich ebenfalls anschauen wollte. Das Team stand. Und neben der Geschichte, die man ganz groß rausbringen wollte, hatte man jetzt ein weiteres Ziel: Investigativen Journalismus und Online zusammen zu bringen. Bzw. mit dieser Geschichte zum Führer und Trendsetzer der Branche zu werden.

Jetzt war nur noch alles eine Frage des Erscheinungstermins. Und der war für den 1. Juni 2008 angesetzt. Damit die Geschichte bzw. das eigentliche Thema mit voller Wucht einschlagen konnte, zog die Zeitung Berlinske Tidende alle Register: Regelmäßige Hinweise auf den Erscheinungstermin eines großen Aufmachers die Tage zuvor, Anlegen von facebook und Twitter-accounts. Dazu das eineinhalbminütige Video auf YouTube.

Wie es öfters mal so kommt, so kam es auch hier. Die Familie des „Mörders“ drohte vor Gericht zu gehen, würde man den Namen nennen. Umgekehrt verweigerte sich der Witwer der Geschichte, sollte der „Mörder“ nicht namentlich auftauchen – warum nur sein Name und nicht der des Täters? Und er hatte einen „roten Schalter“ zur Verfügung, den er jetzt zog. Aber: Da es jetzt nicht mehr schlimmer kommen konnte, sah das Forbrydelsen-Team der Situation gelassen ins Auge. Die beiden Journalisten mit demselben Vornamen (Morten) fuhren erneut zum Hausboot des Witwers, versuchten ihn zu überzeugen, sein „ok“ zu geben, redeten und diskutierten mit ihm mehrere Stunden, gingen nochmals jedes Detail durch, machten ihm die grundsätzliche Bedeutung dieser Geschichte klar. Der Witwer war schließlich überzeugt. Und gab sein „ok“.

Die Veröffentlichung

Ab 1. Juni 2008 ging es Schlag auf Schlag. Der erste Artikel verwies auf den zweiten, der auf den dritten, undsoweiter. Längst war aus den geplanten drei Teilen eine Fortsetzungsserie geworden. Jeden Tag etwas Neues, das die Geschichte dem strukturellen Problem immer näher brachte: Kommt die Polizei, wenn man sie dringend braucht? Wie steht es um die Funktionstüchtigkeit der Polizeireform?

Wurde die anlaufende Berichterstattung mit großem Interesse aufgenommen, so erwies sich das YouTube-Video als Flop.

Als Top aber stellte sich die interaktive Google-Karte heraus. Immer mehr Leser/User meldeten sich, konnten und wollten ähnliche Vorfälle erzählen. In knapp zwei Wochen waren dies annähernd 200 Fälle. 74 davon griff das Spezial-Investigativteam auf. Und in neun dieser Fälle endete die Geschichte mit einem Tod.

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Um die Leser/User nicht nur als Zulieferer zu benutzen, sondern ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie bei dieser Geschichte aktiver dabei sein konnten, wenn sie wollten, hatten sie auch Zugriff auf die vorher dafür aufbereiteten Recherchematerialien der Redakteure. Auf die Chronologie aller bisher recherchierten Ereignisse sowie die Dokumentation aller mit Behörden geführten Telefonate.

Fotograf Erik REFNER war ab sofort nur noch auf Achse, fuhr durch das ganze Land, interviewte die Menschen, die etwas zu erzählen hatten, machte kleine Videos daraus: Studenten, Bankiers, Rentner, Leute aus der Ober- und der Unterschicht. Alle ihre Erlebnisse gingen online. Und mit jedem neuen Video – bzw. jedem neuen Beispiel, bei dem die Polizei nicht gekommen war – nahmen die Zugriffe auf Website und google-maps-Karte zu. Die öffentliche Wahrnehmung der Geschichte und des dahinter stehenden grundsätzlichen Problems multiplizierten sich.

Natürlich blieb die Aufmerksamkeit, die die Zeitung und ihre Website generierten, sowie die beginnende öffentliche Diskussion darüber der Administration und Politik nicht verborgen. Und so blieb dem Justizministerium nichts anderes übrig, als zu reagieren. Der Minister setzte eine eigene Untersuchung in Gang.

Deren Ergebnis: Die offizielle Anzahl von Fällen, in denen die Polizei bei Hilferufen nicht gekommen war und bei denen es um Verbrechen gegangen war, wie sich danach herausstellen sollte, betrug 300.

Und wieder bekamen die Redakteure dezente Hinweise. Darauf, dass in dieser Untersuchung bzw. der offiziellen Zahl von „300“ nicht alle Fälle eingegangen wären. Morten CRONE und Morten FRICH zögerten nicht, den aussichtslosen Versuch zu unternehmen und um Einblick in die zentralen Unterlagen dieser Untersuchung nehmen zu dürfen.

Nach mehreren Monaten kam die Antwort: Sie durften. Eine Verweigerung hätte die Behörden und die Politik bei einem derart großen öffentlichen Interesse wohl ziemlich ‚alt‘ aussehen lassen.

Jetzt stieg die Statistik erneut: CRONE und FRICH addierten weitere 150 Fälle – die inoffizielle Zahl lag nun bei 450.

Zwischen Juni und Oktober publizierten CRONE und FRICH rd. 500 Nachrichten, ausführliche Berichte und kleinere Online-Beiträge. (Nur) Online waren die Videos all derer, die von ihren eigenen Erlebnissen bzw. ihre ‚Geschichte‘ in Kurzform erzählten. Unterm Strich war es eines der ergiebigsten Themen hinsichtlich Publizieren und Rezeption, die die Zeitung Berlinske Tidende angestoßen hatte.

Die politischen Folgen

„Da könnte es ein kleineres Problem geben,“ ließ der dänische Premierminister und spätere NATO-Generalsekretär (2009-2014), Anders Fogh RASMUSSEN, im Oktober verlauten. Ein ungewöhnliches Statement, war doch der MP eher dafür bekannt, jegliche Kritik an sich und seiner Politik einfach abperlen zu lassen. „Da gibt es nicht das geringste Problem“, lautete einer seiner Standardsprüche. Doch diesesmal war es etwas anders, als RASMUSSEN sich kurz und knapp zu der Berichterstattung von Berlinske Tidende äußern sollte. Und nur wenig später, im November, war es dann soweit: Das dänische Regierungskabinett entließ den Nationalen Bevollmächtigen für die Polizei. Der hatte die ganze Zeit ebenfalls jegliche Kritik abgewehrt und alle ‚Pannen‘ in den 300 offiziellen Fällen den zu hohen Erwartungen der Menschen zugeschoben. Der Zeitung hatte er gedroht und ebenso den Redakteuren, sie bei allen Gelegenheiten versucht, zu diskriminieren.

Jetzt setzte die Regierung einen neuen Polizeibeauftragten ein. Und erhöhte das Budget für das Polizeiwesen um 850 Millionen Dänische Kronen, umgerechnet rd. 110 Millionen Euro, um künftig mehr Personal am Telefon und im Außendienst zu haben. Bzw. sie gab das ausdrückliche Versprechen: Wenn jemand die Polizei um Hilfe ruft (via „911“), dann wird sie auch kommen.

Lessons learnt

Und das waren die Lehren, die die Redaktion und das spezielle Investigativteam aus dem journalistischen Crowdsourcing gezogen haben:

  • Üblicherweise ist eine Geschichte (bzw. auch Recherche) dann zu Ende, wenn sie publiziert ist. Ein Journalist ist dann meist schon längst am nächsten Thema dran. Hier war es anders: Mit der Veröffentlichung begann erst die eigentliche Geschichte.
    Anders gesagt: Dies kann man als ‚Normalfall‘ betrachten, wenn die Geschichte für andere relevant ist und sie auf ein strukturelles Problem hinweist, für das eine Lösung benötigt wird.
  • Mit der gesamten Aktion veränderte sich auch die Wahrnehmung von Journalisten in der Politik: Redakteure kommen nicht nur wegen einer schnellen Geschichte. Sie treten auch an andere heran, um über bestimmte Dinge zu schreiben, um sie letztlich zu verändern, sprich zu verbessern.
    Das kann die Akzeptanz sowie die Hilfsbereitschaft ganz allgemein erhöhen.
  • Bei Follow-up-Recherchen bzw. –Geschichten kann man auf den Zufall setzen (siehe Kap. 3.6). Man kann aber auch die Rezipienten, also die Leser/User direkt auffordern, ihre eigenen Erfahrungen und Informationen zur Verfügung zu stellen, und sie damit aktiv einbinden.
    Das erhöht die öffentliche Wahrnehmung der publizistischen Tätigkeit. Und verspricht relevantere Ergebnisse.

Anmerkungen

Im Januar 2009 wurde das vierköpfige Redaktionsteam mit dem renommierten „Cavling“-Preis ausgezeichnet. Ministerpräsident RASMUSSEN, der bei dieser Zeremonie anwesend war, bedankte sich ausdrücklich für die Arbeit der Reporter. Obwohl er sich anfangs sicher ziemlich darüber geärgert hatte. Aber letztlich war er froh, dass es jetzt Verbesserungen gab, die er politisch ohne großen Widerstand durchsetzen konnte.

Im März 2009 wurde das Konzept des publizistischen Crowdsourcing erneut eingesetzt. Eltern eines 14 Monate alten Säuglings hatten sich an die Redaktion gewandt. Ihr Baby hatte eine Batterie verschluckt. 11 Ärzte innerhalb 14 Tagen hatten ihnen nicht geglaubt und eine Röntgenaufnahme verweigert. Das Baby starb.
Innerhalb weniger Monate verbreitete sich auch diese Aktion „In der Hand des Arztes“ wie ein Lauffeuer durchs ganze Land. Und löste wiederum entsprechende Reaktionen aus. Und begann öffentlichen Druck auszulösen. Mit dem Ergebnis, dass sich wiederum viele Dinge veränderten. Konkret: verbesserten.

mehr …

Die gesamte Geschichte nebst komplettem Ablauf bis hin zur Rückgängigmachung der Polizeireform haben Morten CRONE und Morten FRICH in einem Ebook in dänischer Sprache zusammengefasst: Forbrydelsen artikler ebook 2009-11-15_425S (423 Seiten, 6 MB)

Eine Zusammenfassung der polizeilichen Ermittlungen in dänischer Sprache gibt es auf 13 Seiten: Ronnei-Polizeiermittlungen_ebook

Der erste Artikel der gesamten Serie ist z.Zt. (noch) im Online-Archiv. Wir haben ihn sicherheitshalber – wie die anderen Materialien – in unser eigenes Archiv downgeloadet: Forbrydelsen – kapitel 1

Eine Darstellung der journalistischen Vorgehensweisen und angewandten Methoden bei dieser Geschichte haben die Autoren Lene BIDSTRUP, Maria Houen ANDERSEN und Mads HEY im Rahmen einer größeren Seminararbeit an der Journalistik-Fakultät der Roskilde-Universität erstellt (112 Seiten): Forbrydelsen_speciale

Morten CRONE, bei dem der erste anonyme Anruf aufgelaufen war und der die Geschichte in Gang gesetzt hat, können Sie kontaktieren unter mcr@berlingskemedia.dk