3.8.4 – Undercover

Undercover: unerkannt arbeiten

Die verdeckte Recherche, auch unter dem Schlagwort „undercover“ bekannt, ist ausführlich Gegenstand des Buchkapitels 3.8 (S. 168 – 182), in dem es um die Problemlage generell, um unterschiedliche Fallsituationen sowie um das Beispiel Günter WALLRAFF geht. Der hatte mit seinen Arbeiten in den 70er und 80er Jahren inhaltlich und juristisch Maßstäbe gesetzt.

Hier bieten wir 2 Dinge an:

  • Die Dokumentation einer riskanten Recherche im kriminellen Milieu. Dazu gehen Sie bitte auf die entsprechende Unterseite 3.8.4.1. Wir dokumentieren dort 1) die Veröffentlichung der Story, 2) die strategischen Überlegungen desjenigen, der diese Recherche von außen begleitet und absichert hatte sowie 3) den Erlebnisbericht des Undercover-Rechercheurs:
zu 3.8.4.1: Dokumentation einer riskanten Recherche:
  • Ansonsten geben wir weitere Informationen und Hinweise, z.B. auf relevante Literatur oder andere, beispielsweise auch aktuelle Fälle. Außerdem wollen wir die Rechtsprechung beobachten, die sich – erfreulicherweise – immer häufiger mit solchen Fragen auseinandersetzt und die seinerzeit durch WALLRAFF ausgelöste Rechtsprechung des BGH und des Bunderverfassungsgerichts konsequent weiterführt.

Undercover: Akzeptanz
Was viele (Unbedarfte) für „Spitzelei“ oder „Ausspionieren“ halten, ist im Grunde genommen nichts anderes als „Controlling“, wie man das im modernen Management nennt. Qualitäts- oder sonstige Kontrollen machen naturgemäß nur dann Sinn, wenn sie unbeobachtet, d.h. vor allem unangemeldet stattfinden. Das lässt sich in jedem einschlägigen Lehrbuch nachlesen.

Bei einer journalistischen Undercover-Recherche setzt man ebenfalls darauf, unerkannt arbeiten zu können, was den eigentlichen (Beobachtungs- bzw. Kontroll-)Zweck anbelangt. Wenn der ADAC bzw. dessen Mitgliederzeitschrift „ADAC motorwelt“ die alljährlichen Fähren-Tests (z.B. im griechischen Mittelmeer) oder Tunnel-Checks durchführen, melden die journalistischen Qualitäts-„Tester“ ihre Besuche natürlich auch nicht an. Infos dazu über die ADAC-Website:

www.adac.de/Tests/Mobilitaet_und_Reise/Faehren/2005/default.asp?ComponentID=116050&SourcePageID=9344
Umgekehrt gibt es Magazine, die beispielsweise Reiseberichte oder ähnliches veröffentlichen und vorher die fraglichen Hotels, Reiseverabstalter usw. wissen lassen, dass ein Reporter vorbeizukommen beabsichtigt. Entsprechend fallen solche Recherchen und Berichte dann auch aus.Da unerkanntes Recherchieren im Prinzip längst handwerklicher Standard ist und auch vom Pressekodex des Deutschen Presserates abgedeckt wird, stellen logischerweise inzwischen auch die höheren Gerichte, bei denen entsprechende Klagen seitens Betroffener bzw. Beobachteter gegen die beobachtenden Journalisten landen, genau auf diesen Umstand ab. Dass nämlich beispielsweise fragwürdige „Geschäftspraktiken anders als durch eine verdeckte Recherche, die nach presseethischen Standards ausnahmsweise zulässig sein kann, nicht aufgedeckt werden können.“ So etwa die Begründung des OLG München 2005 im Zusammenhang mit den Undercover-Schleichwerbungsrecherchen von Volker LILIENTHAL. Im Pressekodex ist das sehr ähnlich umschrieben:

„Verdeckte Recherche ist im Einzelfall gerechtfertigt, wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind.“ (Richtline 4.1)

Allerdings sind es meistens immer noch die höheren Instanzen, die diese Standards durchsetzen (müssen). Die unteren Gerichte halten sich in diesem Feld eher an die landläufige Massenmeinung. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, in denen Undercover-Reportagen einen ausgesprochen attraktiven Stellenwert besitzen und beispielsweise Sender wie die BBC eigene Sendeplätze eingerichtet haben, ist diese Art von investigativem Journalismus hierzulande (noch) nicht sonderlich angesehen. Dies sicherlich auch deswegen, weil solche Reportagen eher selten, weil aufwändig und teuer sind, zum anderen weil man es bisher versäumt hat, neben dem (spannenden) Thema auch die Arbeitstechnik selbst zum eigenen Stilmittel zu erheben, mit dem man ebenfalls Spannung und Faszination erzeugen kann. In Großbritannien beispielsweise praktizieren dies z.B. die TV-Formate „MacIntyre Undercover“, „Kenyon Confronts“ (BBC) mit großem Erfolg.

Undercover: Rechtsprechung
Zwei neuere Urteile bzw. Fälle sind es, die die juristischen Standards weiterführen.

Am 21.7.2004 hatte das OLG Hamm ein Urteil des LG Münsters teilweise kassiert, das dem Freien Journalisten Friedrich MÜLLN untersagt hatte, Bild- und Filmmaterial weiter zu verbreiten, das dieser im Zusammenhang mit einer 5-monatigen Undercover-Recherche über Tierversuche als angesteller Mitarbeiter in der Firma Covance GmbH, Münster, aufgenommen und über das ZDF-Format Frontal21 am 9.12.2003 veröffentlicht hatte. MÜLLN ist engagierter Tierschützer, ansprechbar unter

www.tierbildarchiv.de
Allerdings hatten die Richter in diesem Urteil differenziert: der Verbreitung der Beiträge für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, in diesem Fall für das ZDF, stehen keinerlei rechtliche Schranken im Weg, „weil es zur Kontrollaufgabe der Presse gehört, auf Missstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen“ (Textziffer 49). Selbst wenn das Bildmaterial illegal beschafft wurde. Dies war hier der Fall, denn MÜLLN hatte in seinem Arbeitsvertrag einen entsprechenden Passus unterschrieben, keinerlei Bilder zu machen oder Informationen nach außen zu geben.

Bei den teilweise identischen Bildsequenzen hingegen, die zu einem anderen eigenständigen Film „Poisoning for Profit“ zusammengeschnitten wurden und die ausschnittsweise bei den privaten Sendern Sat.1 und Pro7 gelaufen waren, kam das Gericht zu einem anderen Ergebnis: wegen „irreführender Schnittführung“ und „falscher Kernaussage“ u.a.m. erzeugten diese Darstellungen einen „verfälschenden Gesamteindruck“ (Tz 99-101). Eine „verantwortungsvolle Güter- und Interessensabwägung“ zwischen Persönlichkeitsschutz (Fa. Covance) und öffentlichem Informationsinteresse lässt sich aber nicht mit „verfälschenden Begleittexten oder durch suggestive Schnittführung“ legitimieren (Tz 107). Die Verbreitung dieser Filmbeiträge wurden daher untersagt.

Dieses Urteil (Az 3 U 77/04) sowie ein weiteres im gleichen Zusammenhang ergangenes Urteil (3 U 116/04) des OLG Hamm, beide auch vom selben Tag, können hier als pdf-file nachgelesen werden (10 S. bzw 135 KB; 7 S. bzw. 125 KB):

artikel_65_1136475528olg hamm_poisening for profit.pdf
artikel_65_1136475528olg hamm_friedrich muelln.pdf
Der zweite, aktuellste Fall betrifft die Schleichwerbungs-Recherchen des epd-Redakteurs Volker LILIENTHAL, Frankfurt. Er war seit Sommer 2002 dem Verdacht nachgegangen, dass es in der ARD-Serie „Marienhof“ und anderen Produktionen der Fa. Bavaria, München, bewusst zu Schleichwerbung in großem Stil gekommen sein könnte.

Um einem gezielten Hinweis wirklich auf den Grund zu gehen bzw. ein zugespieltes Videoband auf die Echtheit der dort dokumentierten Praxis hin überprüfen zu können, arrangierte LILIENTHAL im Jahre 2003 in Absprache mit seiner Redaktion und der des Fachorgans „journalist“ ein entsprechendes Geschäftsgespräch mit einer Agentur, die gegen Geld entsprechende Werbebotschaften indirekt in die Drehbücher eingehen zu lassen vertraglich zusichern versprach. Damit waren die Informationen auf dem Videotape bestätigt.

Über die Gegenchecks bei den Marienhof-Produzenten wiederum bekam die Agentur schnell Wind von der Recherche und erwirkte eine einstweilige Verfügung vor dem Landgericht München I. Diese Verfügung entsprach einem faktischen Recherchier- und Publikationsverbot, weshalb sich Volker LILIENTHAL die nächsten zwei Jahre nur auf die Sichtung und Auswertung von älteren Sendungen verlegen, aber nicht darüber publizieren durfte (Zum Ablauf der Recherchen vergleiche die Fachzeitschrift message 3/2005).

Erst das Urteil des OLG München vom 20.1.2005 (Az 6 U 3236/04) hob die Verfügungswirkung der Vorgängerinstanz wieder auf und stellte klar, dass selbst wenn sich der Journalist (Beklagter) „im vorliegenden Fall die Informationen von der Klägerin gegebenenfalls durch Täuschung beschafft hat, indem er als Unternehmensberater aufgetreten ist und einen fiktiven Kunden genannt hat“, führe „dies nicht zu einer Einschränkung seines Schutzes, denn auch die Publikation rechtswidrig recherchierter Informationen fällt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG“.

Hier ist dieses Urteil aus der Urteilsdatenbank der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Prof. Schweizer (www.kanzlei-prof-schweizer.de) dokumentiert (pdf-file, 27 S, 125 KB):

artikel_65_1136475672olg-m-200105_epd-verdeckterecherche.pdf
Die Rechercheergebnisse hatten spürbare Folgen: Die öffentliche Diskussion um die Fragwürdigkeit von Schleichwerbung begann so richtig an Fahrt zu gewinnen und bei der Bavaria GmbH, die sich im Besitz von 4 ARD-Sendern befindet (WDR, SWR, MDR, BR) mussten mehrere Verantwortliche gehen, darunter 2005 auch der Chef der Bavaria, Thilo KLEINE.

Undercover: Literatur und andere Fälle:
Verdeckte Recherchen können sehr aufwändig, sprich teuer werden. Schon deshalb, weil man sich eine Legende zulegen und diese auch jederzeit belegen können muß. Auch aus diesem Grund finden sich solche Reportagen und Berichte sehr häufig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dem gerade hierbei eine besondere Rolle bei der öffentlichen Aufgaben-Erfüllung zukommt. Der Nachteil solcher Filmbeiträge: wenn Sie gesendet wurden, verschwinden sie im Archiv oder werden aus „rechtlichen Gründen“ nicht mehr wiederholt.

  • Pädophilie, Kinderpornographie
    Ein solches Beispiel betrifft den Film „Am hellichten Tag“, der am 4.11.2004 im ZDF in der Reihe „37 Grad“ gelaufen war. Der Autor, der gleichzeitig (verdeckter) Kameramann war, Manfred KARREMANN, hatte sich ein Jahr lang in die pädophile Szene in Berlin und München eingeschlichen, um über die oft nicht wahrgenommenen Probleme sexuellen Missbrauchs und sexueller Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen zu berichten. 60.000 Menschen deutschlandweit, so genannte „Pädos“, so schätzt die Kriminalpolizei, leben und agieren in diesem Milieu. Oft tarnen sich diese Pädo-Netzwerke sogar als Selbsthilfegruppen.KARREMANN’s Recherchen und Berichte haben regelmäßig Folgen hinterlassen: die beobachteten Täter wurden vor Gericht gestellt.

    Den ZDF-Film aus dem Jahre 2003 kann man nicht mehr anschauen; er wurde vom ZDF selbst gesperrt. Allerdings hatte Manfred KARREMANN die aufwändigen Rechercheergebnisse parallel auch in der Illustrierten „stern“ veröffentlicht. Dort kann man sie unter „Unter Kinderschändern“ (stern Nr. 45 v. 30.10.2003) sowie unter „Jagd auf ‚Zwergerl’“ (stern Nr. 46 v. 6.11.2003) nachlesen.

  • Strafvollzug
    Was sich hinter Gefängnismauern und erst recht in Hochsicherheitsknasten abspielt, lässt sich selten hautnah dokumentieren. So erging es auch dem US-amerikanischen Journalisten Ted CONOVER aus New York, der um offiziellen Zugang und amtliche Gespräche zu diesem Thema bat. Beides wurde ihm verwehrt.CONOVER machte inkognito eine Ausbildung zum Gefängniswärter und bewarb sich erfolgreich. Sein 2001 auch auf deutsch erschienenes Buch „Vorhof der Hölle. Undercover in Sing Sing“, einem gefürchteten Gefängnis mit 2.300 Gefangenen und 750 Wärtern, dokumentiert die Zustände hinter diesen berühmt-berüchtigten Mauern. Der Report, 448 Seiten, ist im Rowohl-Verlag erschienen.
  • Altenpflege, Pflegeheime
    „Abgezockt und totgepflegt. Alltag in deutschen Pflegeheimen“ – so lautet der Titel eines 2005 erschienenen Buches aus dem Econ-Verlag. Markus BREITSCHEIDEL, der Autor, studierter Wirtschaftswissenschaftler, arbeitete zuvor erfolgreich als Marketingkeiter einer gutgehenden Werkzeugfabrik – bis im Sommer 1998 Günter WALLRAFF Diamantbohrer für seine Steine- und Skulpturensammlung dringend benötigte. Die selbstverständliche Blitzlieferung an einem Samstag-Morgen durch den Marketingleiter höchstpersönlich ist für agile und serviceorientierte Unternehmen eine Selbstverständlichkeit, endete aber für BREITSCHEIDEL mit einer persönlichen Wende: er wurde zum Aussteiger und gleichzeitig zum Einsteiger in ein Metier, das immer mehr Menschen betrifft, in das immer mehr Geld hineingepumpt wird und das sich dennoch immer mehr durch Unappetittlichkeit und Unmenschlichkeit auszeichnet. Alte Menschen, die sich nicht mehr wehren können, haben keine Lobby und mutieren zur gesellschaftlichen Randgruppe.BREITSCHEIDEL hatte sich ein Jahr als Pflegehilfskraft in verschiedenen Heimen verdingt und berichtet von seinen Einblicken, Erlebnissen und den Befindlichkeiten der alten Menschen. Er macht sich zudem konkrete Gedanken darüber, wo eigentlich das viele Geld bleibt (z.B. Pflegeversichung), das in diesen Sektor fließt, und ob es da mit rechten Dingen, sprich effizientem und gleichzeitig menschenwürdigem Management zugeht.

    Der Report umfasst 226 Seiten und enthält auf weiteren 14 Seiten sowohl nützliche Adressen als auch Literaturtipps. WALLRAFF hat ein Vorwort dazu geschrieben. Kostenpunkt: 16,95 €

  • Politische Magazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens
    Darauf wurde bereits hingewiesen: auf die besondere Verantwortung bei der Berichterstattung des gebührenfinanzierten TV. Die bekannten Magazine wie panorama, Frontal21, Monitor, Report und t.w. auch andere Formate und Fernsehbeiträge bringen regelmäßig auch Einblicke in und aus Welten, die sonst verschlossen wären und nicht in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten könnten.Beim Sender BBC ist es derzeit vor allem die Sendung „Kenyon Confronts“. Über den nachfolgenden Link lässt sich das dortige Programmgeschehen beobachten:
news.bbc.co.uk/2/hi/programmes/kenyon_confronts/default.stm