Günter WALLRAFF ist heute nicht nur Journalisten ein Begriff. Auch Leser des ZEIT-Magazins oder Fernsehzuschauer von RTL können mit dem Namen längst etwas anfangen: „Team Wallraff – Reporter undercover“ ist wohl inzwischen eine Marke.
Bekannt ist sein Name schon länger. In den 70er Jahren galt er als Unternehmer- und Behördenschreck. Bzw. als nicht ernst zu nehmender Exot. Heute sind seine Methoden nicht mehr umstritten, sondern akzeptiert – sie haben längst Eingang in die Rechtsprechung und in den Pressekodex gefunden. WALLRAFF ist nicht nur der Vordenker gewesen, sondern vor allem auch der Vormacher. Was heute quasi selbstverständlich ist, geht auf seine Aktivitäten zurück.
Hier eine Rekonstruktion seiner journalistischen Verdienste.
Der Umstand, dass deutsche Gerichte in Fällen einer absoluten Interessenskollision zwischen Persönlichkeitsrechten von Individuen oder Unternehmen auf der einen Seite (gesetzlich geschützte Sphären) und öffentlichen Interessensbedürfnissen (meist vertreten durch die Medien) auf der anderen Seite eine so genannte Rechtsgüterabwägung vornehmen, weil sie zunächst von der gleichberechtigten Existenz beider Rechtsansprüche ausgehen, geht maßgeblich auf Günter WALLRAFF zurück. Konkret dessen langjährige Aktivitäten als Literat, Schriftsteller, Publizist oder Journalist, über – in der Öffentlichkeit nicht thematisierte – Geheimwelten, insbesondere die Welten von ganz normalen Arbeitnehmern in den Unternehmen ausführlich zu berichten.
WALLRAFF, der schnell zum Prototyp des bundesdeutschen Unternehmerschrecks avancierte (»Wallraff was here«), hatte dabei nicht nur die Diskussion in der Öffentlichkeit, sondern auch die höchstrichterliche Rechtsprechung herausgefordert, sich den neuen Sichtweisen einer sich verändernden Industrie- und Demokratiegesellschaft zu stellen. Dies geschah in den Jahren 1981 und 1984, als erst das höchste deutsche Zivilgericht und drei Jahre später – auf eine Verfassungsbeschwerde des betroffenen Unternehmens hin – das höchste Verfassungsgericht medienrechtliche Meilensteine setzten. Das klagende bzw. beschwerdeführende Unternehmen hieß Axel Springer Verlag (ASV). In dessen Hannover’schen Redaktion der Bild-Zeitung hatte sich Günter WALLRAFF 1977 unter dem Pseudonym »Hans ESSER« »eingeschlichen« (Bild v. 23.7.1977: »Ein ›Untergrund-Kommunist‹ schlich sich ein«). Bis zu diesen richterlichen Entscheidungen war es indes ein beschwerlicher Weg.
»Es ist allgemein meine Arbeitsmethode, mithilfe einer fremden Rolle Informationssperren zu überwinden, um reaktionäre Sachverhalte aufzuzeigen. Ich arbeitete z.B. als Hilfsarbeiter zwei Jahre in Betrieben, um die Zustände dort beschreiben zu können, ließ mich als Alkoholiker in ein Irrenhaus sperren oder lebte eine Zeit lang in Asylen. In den ersten Jahren konnte ich diese Arbeit noch unter meinem echten Namen antreten. Bezeichnenderweise wird man hier zu Lande nicht so leicht Unternehmer oder gar Ministerialrat, wie man Arbeiter oder Obdachloser werden kann, diese Titel mussten also erst erschlichen werden, aber die Methode, in einer fremden Rolle Sachverhalte aufzudecken, die anders nicht zu erfahren sind, war die gleiche geblieben, und der Zweck der Aufklärung lag im öffentlichen Interesse.
Man kann also unterstellen, dass es nicht die erschlichenen Funktionen waren, die Entrüstung erzeugten, sondern das Interesse herrschender Gruppen daran, vor der Öffentlichkeit verdeckt zu halten, was aufzuklären im öffentlichen Interesse liegt.«
So WALLRAFF am 10.12.1975 vor dem Kölner Amtsgericht (zit. n. LINDER 1986: 118), vor dem er wegen »Ausweismissbrauchs« und »Urkundenfälschung« angeklagt war. Mit geliehenem Namen und ausgeliehener Lohnsteuerkarte hatte er sich 1973 zwei Monate lang erst als Pförtner, dann als Hausbote beim Gerling-Konzern in Köln verdingt. Ergebnis seiner Beobachtungen war eine seiner eindringlichsten Reportagen über anachronistische Arbeitsbedingungen, Kündigungswillkür und Launen der vornehmen Vorgesetzten, denen die ›kleinen Angestellten‹ in dem patriarchalisch geführten Versicherungsunternehmen ausgeliefert waren. Für dessen Konzernherrn, »Dr. Hans Gerling«, gleichzeitig »Schwedischer Generalkonsul«, waren Zucht und Ordnung die entscheidenden Werte, und zu den »Gegnern der Stabilität« zählte er u.a. »die Demokratie als parlamentarische Einrichtung«, »die Parteien als gesellschaftspolitische Einrichtungen« sowie »die Arbeitnehmerorganisationen als sozialistische Einrichtungen« (zit. n. LINDER 1986: 334). Entsprechend atmete das ganze Haus den Geist der Unterwürfigkeit.
Dieser nüchtern und detailliert beschreibende Report wird unwillkürlich zur Real-Satire, als sich der bisher gefügige Hausbote erdreistet, sich zum Mittagstisch ins Allerheiligste, den edelst ausgestatteten Speisesäalen der Konzernherren, zu begeben, um sich daselbst mit dem mittäglichen Gruß »Mahlzeit!« in einem der feinen Clubsessel niederzulassen … (vgl. WALLRAFF 1973: 338 ff).
Die missglückte Verköstigung und Bedienung im Vorstandscasino spielte sich an WALLRAFF’s vorletztem Arbeitstag ab, und neben einigen persönlichen Schikanen danach war es der damalige Macher des Deutschland-Magazins, einem ausgesprochen konservativ geprägten Meinungsblatt, der die Staatsanwaltschaft bedrängte, endlich einmal gegen den unbotmäßigen Publizisten strafrechtlich vorzugehen. Der Deutsche Presserat beispielsweise hatte sich strikt geweigert, eine Rüge auszusprechen, da es seiner Meinung nach für einen Journalisten unter Umständen notwendig werden könne, zum Zwecke der Wahrheitsfindung unter einer anderen Identität anzutreten.
Vom Amtsgericht Köln wird WALLRAFF 1975 verurteilt. Das Landgericht hebt das Urteil 1976 aus formaljuristischen Gründen wieder auf: wegen eines »unvermeidbaren Verbotsirrtums« (§ 17 StGB). Im Klartext: Der Angeklagte konnte sich im Hinblick auf seine eigentlichen Ziele seines rechtlichen Fehlverhaltens hinsichtlich der Methoden, konkret des begangenen »Unrechts«, nicht im Klaren sein. Zu einer ernsthaften Diskussion vermag sich das Landgericht jedoch nicht durchringen: So kann es »dahinstehen«, ob »ein Journalist oder Schriftsteller unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt erscheinen mag, im Interesse der Öffentlichkeit sich Informationen zu beschaffen.« Es sei aber klar, dass sich Unternehmen »verständlicherweise gegen die Arbeitsweise und Berichterstattung des Angeklagten sperrten.«
Wie auch immer: Die (teilweise gesetzeswidrigen) Arbeitsbedingungen im Hause Gerling hatten sich zu diesem Zeitpunkt zum Normalen verändert – nicht zuletzt aufgrund der initiierten öffentlichen Diskussion.
Szenenwechsel: Nachdem sich WALLRAFF 1974 mitten in Athen auf einem der belebtesten Plätze angekettet hatte, um auf die griechische Militärdiktatur und deren Unterstützung durch Nato und die USA aufmerksam zu machen, wurde er im gleichen Jahr verurteilt – nicht ohne die Gerichtsverhandlung in ein öffentliches Tribunal umzufunktionieren. Nochmals ein Jahr später konnte er einen drohenden Putschversuch von rechts in Portugal entlarven (WALLRAFF 1976). 1977 geht er eines seiner größten Projekte an: Als erfolgsgebräunter Reporter mit Bürstenhaarschnitt lässt er sich beim Boulevardblatt Bild in Hannover als fester Freier unter seinem ordnungsgemäß angemeldeten Pseudonym »Hans ESSER« anstellen. Vier ganze Monate hatte er »mitgelogen, mitgefälscht«, um später haarklein berichten zu können, wie Deutschlands größte Tageszeitung inhaltlich entsteht: in seinem Buch »Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war« (WALLRAFF 1977).
Der Axel-Springer Verlag, damals noch zu Lebzeiten seines gleichnamigen Konzernherrn, klagt und erwirkt eine einstweilige Verfügung zwecks Unterlassung einiger ihn besonders kränkenden Textpassagen. Vor dem Landgericht Hamburg obsiegen 1978 vor allem WALLRAFF und sein Verlag Kiepenheuer & Witsch. 1979 macht das Oberlandesgericht das Urteil in mehreren Punkten wieder rückgängig. Nachdem auf diese Weise sowie durch einige Unterlassungserklärungen letztlich insgesamt rund 50 Streitpunkte aus der Welt geschafft sind, verbleiben insgesamt noch vier: 1) die Echtheit eines Zitats des Hannoverschen Bild-Chefs, 2) einige wertende Passagen WALLRAFF’s über die Zeitung sowie vor allem aber 3) das abgedruckte Gedächtnisprotokoll einer Redaktionskonferenz und 4) der Abdruck eines Hans ESSER-Manuskripts, in dem der Bild-Chef eigenhändig handschriftliche Änderungen, sprich Fälschungen in Form frei erfundender Zitate hineinproduziert hatte.
SPRINGER klagt weiter. Insbesondere will er letztinstanzlich wissen, ob sich wer auch immer als Wolf im Schafspelz in einen Betrieb »einschleichen« dürfe, um hinterher Interna auszuplaudern.
Der Bundesgerichtshof als höchste zivilrechtliche Instanz setzt 1981 angesichts der »Fehlentwicklungen eines Journalismus…, der noch Formen des Rechts in Anspruch nehmen mag, aber die Aufgaben der Presse und ihre Verantwortung aus dem Auge verloren hat«, einen medienrechtlichen Meilenstein. Er tut dies vor allem in zwei Leitsätzen, die das Urteil prägen:
- »Ein Arbeitnehmer ist durch seine Verpflichtung zur Verschwiegenheit dann nicht gehindert, nach seinem Ausscheiden aus dem Anstellungsverhältnis Betriebsinterna zu offenbaren, wenn er damit gewichtige innerbetriebliche Missstände aufdeckt, durch die die Öffentlichkeit betroffen ist und denen durch Vorstelligwerden im Betrieb nicht erfolgreich begegnet werden kann.«
- »Unter gewissen Voraussetzungen dürfen in öffentlicher Kritik an einem Unternehmen Betriebsinterna offenbart werden, auch wenn sich der Kritiker deren Kenntnis durch Anstellung in dem Unternehmen unter Verschweigen seiner Absicht und unter einem Decknamen verschafft hat.«
Damit sind ganz grundsätzlich klare Verhältnisse geschaffen. Und noch eine Klarstellung ist von Bedeutung: Die seitens des Grundgesetzes schutzwürdigen Interessen der Öffentlichkeit beschränken sich nicht nur auf die »Aufdeckung besonders gravierender Rechtsverstöße…. Von nicht geringerem Gewicht müssen für sie Einflüsse von Fehlentwicklungen«, z.B. im Journalismus sein. Denn die verfassungsmäßig abgesicherte »freie Meinung und Kritik ist nicht zuletzt deshalb gewährleistet, um solche zwar ›alltäglichen‹, für die Gemeinschaft aber wichtigen Vorgänge im Bewusstsein und unter der Kontrolle der Öffentlichkeit zu halten.« Aber darüber hinaus ist diese Notwendigkeit einer öffentlichen Kontrolle durch die Medien deshalb gegeben, weil sich oftmals solche Vorgänge bzw. hier solche »Einflüsse von Fehlentwicklungen« gerade »nicht spektakulär und für jeden ohne weiteres fassbar, sondern für die Allgemeinheit unsichtbar, nichtsdestoweniger einschneidend vollziehen« (zit.n. AfP 1981: 274). Damit ist auch die soziale Relevanz (und nicht nur offensichtliche Missstände) ein entscheidendes Kriterium dafür, was an Geheimnissen an die Öffentlichkeit getragen werden darf.
Der Axel Springer Verlag ist mit diesem Urteil v. 20.1.1981 (Az: VI ZR 162/79) nicht zufrieden – er lässt die Verfassungsmäßigkeit des Richterspruchs überprüfen. Das geschieht am 25.1.1984, wenn das Bundesverfassungsgericht seinerseits drei Leitlinien formuliert, von denen in diesem Kontext vor allem die ersten beiden relevant sind (Az: 1 Bv R 272/81; vgl. NJW 1984: 1741-1746 bzw. BVerfGE 66, 116-151):
»1. Das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG) gewährleistet auch die Vertraulichkeit der Arbeit von Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen. Die Tragweite dieses Schutzes im konkreten Fall ergibt sich allerdings erst dann, wenn die Schranken des Grundrechts berücksichtigt werden.
2. a) Die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen wird vom Schutz der Meinungsfreiheit (Art 5 I GG) umfasst. Auch insoweit kommt es jedoch auf die Schranken des Grundrechts an.
2. b) In Fällen, in denen der Publizierende sich die Informationen widerrechtlich durch Täuschung in der Absicht verschafft, sie gegen den Getäuschten zu verwerten, hat die Veröffentlichung grundsätzlich zu unterbleiben. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Bedeutung der Informationen für die Unterrichtung der Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung eindeutig die Nachteile überwiegt, welche der Rechtsbruch für den Betroffenen und für die Rechtsordnung nach sich ziehen.«
Dieser Beschluss muss im Zusammenhang mit a) den von SPRINGER jeweils zur verfassungsrechtlichen Überprüfung vorgelegten, weil unbefriedigt geklärten Sachverhalten (Protokoll der Redaktionskonferenz, faksimilierte Manuskriptseite, etc.) sowie mit b) deren zivilrechtliche Beurteilung durch den BGH gesehen werden. Die Hüter der Verfassung urteilen dabei über jeden einzelnen Punkt bzw. über jeden einzeln dazu ergangenen Beschluss seitens der BGH-Richter.
Leitsatz eins und zwei beziehen sich auf die Wiedergabe des Redaktionskonferenzprotokolls und die faksimilierte Manuskriptseite. Im Prinzip haben die Verfassungsrichter an der Argumentation der Zivilrichter nichts auszusetzen, dass auch so genannte betriebliche Interna gegen den Willen eines Arbeitgebers ans Licht der Öffentlichkeit geraten dürfen, wenn dies von entsprechender Bedeutung ist. Allerdings, und hier ändern die Verfassungsrichter die zivilrechtlich ergangene Entscheidung im Ergebnis, d.h. auf den konkreten Fall der Bild-Zeitung bezogen, ab: Da es sich um Interna einer journalistischen Produktion, konkret um eine Redaktionskonferenz handelt und die Freiheit der Medien ihrerseits als absolut unantastbares Verfassungs(rechts)gut gilt, muss diese Situation hier anders gesehen werden: In der Abwägung zwischen öffentlichem Interesse und »verfassungsrechtlichem Schutz der Pressearbeit« geht letzteres vor – »die Schranken des Grundrechts« sind im Falle der notwendigen »Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit« (eigentlich) unüberwindbar.
Mit anderen Worten: Hätte WALLRAFF aus einer Vorstandssitzung des Gerling-Konzerns rapportiert, also »rechtswidrig beschaffte«, aber öffentlichkeitsrelevante Informationen veröffentlicht, so wäre die Verletzung dieses Rechtsbruchs und die damit verbundenen Nachteile für die Rechtsordnung hinzunehmen gewesen. Die Pressefreiheit indes gilt nach diesem allerletzten Richterspruch als so unverletzlich, und dies aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, dass sie in keinster Weise zur Disposition stehen kann. Diese Sicht der Dinge ist nach derzeitigem Stand unumstößlich.
Die Richter hatten aber auch weiter gedacht, und dies ist der durchaus entwicklungsfähige Leitsatz dieser Entscheidung: »Die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen« fällt grundsätzlich unter den Schutz der grundgesetzlich kodifizierten Meinungsfreiheit. Allerdings immer in der Abwägung zwischen zwei widerstreitenden Interessen. Und im konkreten Fall hätten die Zivilrichter dem Öffentlichkeitsbedürfnis ein »zu hohes, dem Einbruch in die Sphäre der Beschwerdeführerin und den aus der Folgenlosigkeit eines solchen Vorgehens resultierenden Nachteilen für die Rechtsordnung ein zu geringes Gewicht beigemessen. Zwischen beiden besteht ein Missverhältnis.«
Auf die strittigen Punkte bezogen darf WALLRAFF das Redaktionskonferenzprotokoll nicht weiter veröffentlichen, wohl aber das fragliche Manuskript faksimilieren. Letzteres tangiert bzw. bricht nach Ansicht der Richter (Stimmengleichheit bei dieser Entscheidung!) nicht die Vertraulichkeit der Pressearbeit.
Vom Grundsatz her gesehen hat die Arbeit von Günter WALLRAFF eine wichtige Rechtsposition geschaffen, die ausbaufähig ist: Auch »rechtswidrig beschaffte oder erlangte Informationen« sind Gegenstand journalistischer Aufklärungsarbeit. Dies sollte man genau so nutzen. Und im Zweifel vor Gericht auch weiter entwickeln (lassen).