Fallbeispiel: Die Lucona-Affäre in Österreich (80er Jahre) – Ergänzung zu Kapitel 2.4

Die beiden Bücher zur Lucona-Affäre von Hans PRETTEREBNER, die in seinem eigenen Verlag erschienen waren, sind längst vergriffen und nur noch über Bibliotheken greifbar:

  • (1987): Der Fall Lucona. Ost-Spionage, Korruption und Mord im Dunstkreis der Regierungsspitze. Wien: Pretterebner VerlagsGmbH; 672 S. (ISBN: 3-900710-01-5)
  • (1993): Das Netzwerk der Macht. Anatomie der Bewältigung eines Skandals. Wien: Pretterebner VerlagsGmbH; 480 S. (ISBN: 3-900710-02-3)

Das erste Buch, das letztlich die Affäre zur Affäre machte, beeindruckte die Österreicher derart, dass davon 380.000 Exemplare verkauft wurden – trotz etwa 50 gerichtlicher erwirkter Verfügungen und Behinderungen. PRETTEREBNER hatte für seine Recherche der Affäre etwa drei Jahre lang in Österreich, Deutschland, der Schweiz, in Rotterdam und London, Ost-Berlin, Bukarest, Istanbul, auf Costa Rica und in Hongkong recherchiert und dabei rund 350 Informanten befragt. Das alles entsprach einem Zeitaufwand von etwa 4.000 Stunden, was rund einhundert 40-Stundenwochen entspricht. Das Ergebnis: Die ursprüngliche Buchfassung betrug 1.200 Seiten, die er für die endgültige Fassung unter Streichung vieler Nebenaspekte usw. auf 672 Seiten eingedampft hatte. Das zweite Buch von 1993, in dem PRETTEREBNER schildert, was alles nach der ersten Buchveröffentlichung geschah, konnte sich 80.000 Mal verkaufen. Es ist geplant, dieses Buch in absehbarer Zeit digital ins Netz zu stellen, und zwar auf der Website www.pretterebner.at, die allerdings noch nicht aktiv ist. Die Affäre und die Funktion des Publizisten PRETTEREBNER dabei ist auch verfilmt worden: Der Fall Lucona. Österreich/Deutschland 1993. Regie: Jack GOLD, Produzent: Herbert KLOIBER. Als Hauptdarsteller fungieren David SUCHET in der Rolle des Udo PROKSCH und Jürgen PROCHNOW als PRETTEREBNER. Die Fernsehrechte hält derzeit das ZDF, wo er auch ab und an gesendet wird. Im folgenden eine Zusammenfassung der rd. 1.100 Seiten aus beiden Büchern auf nur wenigen Seiten:


In Österreich waren die Bereiche Staat und Justiz, Partei und Wirtschaft eng verflochten. Idealer Nährboden für eine unglaubliche Geschichte, die zunächst ganz simpel klingt und so auch die Runde machte:

Ein Frachter, beladen mit einer Uranerz-Aufbereitungsanlage aus Österreich war mitten im Indischen Ozean an einer der tiefsten Meeresgründe explodiert und innerhalb von nur zwei Minuten abgesoffen. Verkäufer der Wiederaufbereitungsanlage: eine Aktiengesellschaft namens Zapata in der Schweiz. Käufer: eine Firma in Hongkong, deren eingezahltes Stammkapital 20 (in Worten: zwanzig) US-Dollar betrug. Wert der Versicherungssumme, für die die staatliche BundesländerVersicherung haften wollte: rund 30 Millionen Schweizer Franken. Anzahl der Toten: sechs von zwölf Seeleuten.

Explosion und Untergang sind 1977 in Österreich keine nennenswerten  Meldungen wert. Zwar fällt einerseits der Name des Besitzers des Wiener Nobel-Cafes »Demel«, Udo PROKSCH, im Zusammenhang mit dem Schiff, der andererseits auch als Repräsentant der Schweizer Verkäuferin Zapata in Verbindung gebracht wird. Aber der Alpenstaat unter ihrem Kanzler KREISKY (SPÖ) wird von Wien aus mit absoluter Mehrheit regiert. Und so wird jeder, der den sympathischen wie umtriebigen Betreiber des Nobelcafes, den liebenswürdigen »Herrn Udo« kritisiert (der übrigens an gleicher Örtlichkeit  den »Club 45« betreibt, in dem auch KREISKY ein- und ausgeht), schnell als Neider, Miesmacher oder Systemgegner disqualifiziert – alle sind glücklich, so wie es ist.

Die staatliche Bundesländer-Versicherung indes, die fest in der Hand von ÖVP-Mitgliedern ist, schöpft aufgrund des Zusammenfallens mehrerer Zufälle und merkwürdiger Umstände Verdacht und weigert sich bis zur Vorlage weiterer Unterlagen die 30 Millionen zu zahlen. Dagegen klagt die Zapata. Das Handelsgericht weist die Klage ab: Es fehlen relevante Dokumente. Die Zapata geht vor den Obersten Gerichtshof. Der hebt die Abweisung der Klage auf und gibt dem Handelsgericht vor, ein Beweisverfahren durchzuführen. Dies geschieht. Das Handelsgericht weist die Zapata-Klage zum zweiten Mal ab. Richter am Oberlandesgericht in Wien, die unter dem Einfluss des Gerichtspräsidenten stehen, der bekanntermaßen im Club 45 ein- und ausgeht und sich öffentlich als Freund von »Herrn Udo« bekennt, heben das Handelsgerichtsurteil wieder auf und fordern ein drittes Verfahren. Dazu kommt es. Doch bevor das Handelsgericht die Zapata-Klage mangels schlüssiger Nachweise, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, ein drittes Mal abweisen wird, wird der Verteidigungsminister erschossen vor seinem Jagdhaus aufgefunden. In seinem Nachlass werden sich später Aktien einer Schweizer Firma finden – die Aktien tragen den Namen »Zapata«.

Das Oberlandesgericht hebt das Urteil des Handelsgerichts wiederum auf. Anstatt die Klage jedoch an das Handelsgericht ein drittes Mal zurückzu­überweisen fällen die Richter 1983, also sechs Jahre nach dem Lucona-Untergang,  dieses Mal gleich selbst ein Urteil: Die Versicherung muss an die Zapata 30 Millionen Schweizer Franken zahlen. Die Versicherung en­gagiert daraufhin einen Privatdetektiv. Bereits 1977 hatte sie einen (ande­ren) Privatermittler beauftragt, der ganz schnell Beweise fand, dass die Lucona unmöglich eine in Österreich hergestellte Uranerz-Aufbereitungs­anlage geladen haben konnte, somit eigentlich der Tatbestand eines Ver­sicherungsbetruges erfüllt sei. Da die Versicherungsmanager sich nicht mit »Herrn Udo« und seinen Freunden in der mit absoluter Mehrheit regieren­den SPÖ anlegen wollten, klagten sie nicht selbst, sondern warteten ab. Dass Menschen starben, interessiert in Österreich niemanden: Es waren keine Österreicher an Bord.

Der neue Detektiv aus der Schweiz, dem ungünstigerweise der Makel eines Betrügers anhaftet, läuft in den kartellierten Filzstrukturen schnell auf, kann jedoch noch das errei­chen: Im  ÖVP-regierten Salzburg findet er einen Kriminalbeamten, der sich der Sache annimmt. Da der Privatermittler – mit den Wiener Gepflogenheiten völlig unvertraut – so unvorsichtig ist, einen Reporter des »Kurier« in sein Vorhaben einzuweihen, landen recherchierte Informationen und Dokumente der Versicherung sofort beim Besitzer des Club 45.

Nicht nur der »Kurier«, die zweitgrößte Zeitung des Landes, auch andere der österreichischen Medien echauffieren sich nun darüber, dass ein kleiner Landwachtmeister aus dem Salzburgischen ohne rechte Ahnung gegen Wiens gesellschaftlichen Liebling ermitteln möchte – und dies in Kooperation mit einem mehr als zwielichtigen Privatdetektiv. Was die Medien indes nicht wissen (wollen), ist der Umstand, dass Österreichs Innenminister, Mitglied im Club 45 und eng mit dem »Herrn Udo« befreundet, längst schriftliche Anweisung nach Salzburg gegeben hat, die Ermittlungen auf der Stelle einzustellen – auch in Österreich sind Polizeibeamte dem Innenministerium unterstellt so wie Staatsanwälte weisungsgebunden seitens des Justizministeriums sind. Würde der Weisung nicht entsprochen, so das Fernschreiben aus Wien, drohe dem Kriminalbeamten ein Disziplinarverfahren. Der Kripobeamte reagiert. Da er nicht ermitteln kann, reicht er den schwarzen Peter weiter bzw. in die Zuständigkeit eines anderen Ministeriums mittels einer amtlichen Anzeige wegen Mordes, Mordversuches und schweren Betrugs – bei der Staatsanwaltschaft in Wien.

In dieser Situation entschließt sich der als journalistischer Outlaw geltende Herausgeber der »Politischen Briefe«, Hans PRETTEREBNER, sich (ebenfalls) des Themas anzunehmen und den vielen Widersprüchen und Ungereimtheiten, die niemand wahrhaben will, auf den Grund zu gehen. Es ist die Zeit, in der nach fast sieben Jahren seit dem Untergang der Lucona das Kartell des Schweigens auch im kleinen Staat Österreich mit seinen rund sieben Millionen Einwohnern, in dem jeder jeden irgendwie und von irgendwo her kennt, nach und nach brüchig wird.

Parallel dazu hebt in Wien der Oberste Gerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichtes auf, das der Zapata eigenmächtig den Versicherungsanspruch zusprach, und enthebt zugleich wegen Befangenheit die gesamte Richterschaft von diesem Fall. Aufgrund der Salzburger Anzeige sind in Wien und Umgebung mehrere ›kleine‹, aber aufrechte Kripobeamte mit dem Fall zugange, die schnell ermitteln, dass der seitens Zapata reklamierte Versicherungsanspruch auf gefälschten Papieren und getürkten Zeugenaussagen beruht. Und weiter: hinter allem agiert der Demel-Cafehausbesitzer und Club 45-Betreiber Udo PROKSCH agiert, der ganz offensichtlich auch die Zapata dirigiert.

Inzwischen legt auch ein erster Zeuge ein Geständnis ab: Er hatte die Zollformulare manipuliert, die bis dahin als Beweis für die Existenz der Uranerzaufbereitungsanlage fungierten. Die Kripo beantragt Haftbefehl gegen den Clubbesitzer sowie seinen Kompagnon Hans Peter DAIMLER. Wiens oberster Staatsanwalt lehnt ab. Dafür schaltet einer der ›kleinen‹, aber politisch nicht hörigen Staatsanwälte einen ›kleinen‹ Untersuchungsrichter ein, der auch sogleich bei PROKSCH und seinem Kumpanen eine Hausdurchsuchung durchführen lässt, womit die offenbar nie und nimmer gerechnet haben: In 120 Aktenordnern finden die Beamten so gut wie alles, was in rund 10 Jahren an Schriftverkehr fingiert und an Dokumenten gefälscht worden war, um den Bau und Transport einer angeblichen Uranerz-Wiederaufbereitungsanlage aus Österreich sowie deren Export nach Italien zu belegen und die anschließende Ladung und Verschiffung nach Hongkong zu dokumentieren. Die Gründe für die zeit- und punktgenaue Explosion der Lucona an einer der tiefsten Meeresgründe im Indischen Ozean lassen sich jetzt ebenfalls rekonstruieren: Es war Betrug – die Lucona hatte Industrie- und Metallschrott geladen.

Wer glaubt, damit sei das absehbare Ende dieses Falles eingeläutet, liegt falsch. Vom Jahre 1984 an gerechnet, sollte es nochmals weitere knappe sieben Jahre dauern, bis der erste hochgradig Verdächtige, der Clubbetreiber und Besitzer des weltweit bekannten Cafe-Salons »Demel« in Wien, tatsächlich verurteilt wird. Bis auch der zweite Mitbeteiligte zur Rechenschaft gezogen ist – bis dahin werden es ab 1984 gerechnet sogar dreizehn Jahre werden. Insgesamt lagen zwischen Schiffsexplosion und erstem Urteil 14 bzw. zweitem Urteil 20 Jahre. Dieser »Skandal der Skandale«, der die »Phantasie jeden Krimi-Autors überfordern« würde (SPIEGEL) ist in dem Buch des Journalisten Hans PRETTEREBNER »Der Fall Lucona« (1987) detailliert rekonstruiert und mit vielen faksimilierten Dokumenten genauestens belegt. Ein »Netzwerk der Macht«, so das zweite PRETTEREBNER-Buch (1993), machte über lange Jahre jegliche juristische und/oder politischen Aufklärungsversuche absolut unmöglich. Dies wahrzuhaben war in Österreich ebenso unmöglich, denn was nicht sein darf, das bekanntlich nicht sein kann.

Möglich indes bzw. real spielten sich die folgenden Dinge ab, von denen aus Raumgründen hier nur die markantesten Meilensteine skizziert werden können. Für die Details seien die beiden Bücher (insgesamt über 1.100 Seiten einschließlich Fotos und Dokumente sowie einem ausführlichen Index) des Wiener Journalisten und Publizisten empfohlen (siehe Website).

Als der Innenminister 1984 (erneut) von kriminalpolizeilichen Untersuchungen, diesmal in Wien, erfährt, erteilt er der Polizei (wiederum) die Anweisung, jegliche Ermittlungen auf der Stelle einzustellen. Gleiches macht der Justizminister für die Staatsanwaltschaft. Da Richter ›unabhängig‹ sind, urteilen sie in oder aus freier Überzeugung – so zum Beispiel die Richter (dieses Mal andere) am Oberlandesgericht, nachdem der Oberste Gerichtshof (vergleichbar in Deutschland mit dem BGH) das zeitlich letzte (bzw. insgesamt gezählt: das fünfte) Urteil in Sachen Zapata ./. Versicherung aufgehoben, die Richter ihrer Zuständigkeit enthoben und die Angelegenheit erneut an die Unterinstanz zurückverwiesen hatten. Aber: Auch die neu eingesetzten Zivilrichter sprechen der Zapata die Versicherungssumme zu. Der ›kleine‹ Untersuchungsrichter indes, der bereits die Hausdurchsuchung angeordnet hatte, lässt sich davon nicht beeindrucken: Da sich Udo PROKSCH und sein Kompagnon Hans Peter DAIMLER einer gerichtlichen Einvernahme permanent entziehen, lässt er sie kurzerhand verhaften, womit diese wiederum nicht gerechnet hatten. Jetzt hat »Herr Udo« ein Problem, das er aber spielend meistert – mithilfe eines seiner politischen Freunde, dieses Mal dem österreichischen Außenminister: Der beschafft für das Gericht ein entlastendes Papier, das allerdings kurzfristig erst hergestellt werden muss und dessen Übergabe an Justitia sich daher um einige Tage verzögert. Das Papier ist gefälscht, als solches aber kaum zu erkennen, denn es entstammt professioneller Fertigung: dem rumänischen Geheimdienst Securitate. Ergebnis: Die beiden Verhafteten kommen wieder frei.

Der ›kleine‹ Staatsanwalt, der sich ebenfalls politisch nicht mürbe machen lässt, beantragt aufs Neue eine gerichtliche Voruntersuchung – der Justizminister lehnt aufs Neue ab. Da die staatseigene Bundesländer-Versich-erung noch immer ihre Zahlung zurückhält, eröffnet der »Demel«-Herr einen neuen Kriegsschauplatz: In seinen geheimen Dossiers, die er über die Jahre mittels seiner vielen Verbindungen und Kontakte angelegt hat, befinden sich auch Informationen und Unterlagen über das Geschäftsgebaren der Versicherung. Die nämlich betreibt politische und sonstige ›Landschaftsplege‹ auf ihre Weise, indem sie auf Seiten entsprechender  Begünstigter fiktive und/oder fingierte Schadensfälle finanziell ausgesprochen großzügig zu regulieren pflegt. Jetzt ist auch die Opposition ruhig gestellt, denn die Versicherung gehört zum Pfründen-Areal der ÖVP. Als kurz darauf Nationalratswahlen (analog: Bundestag) stattfinden und die SPÖ zusammen mit der ÖVP eine Große Koalition eingehen muss, ist eines klar: Für die ÖVP gibt es keine Lucona-Affäre und für die SPÖ keinen Versicherungsskandal.

In dieser politischen Situation, in der auch fast die gesamte Medienlandschaft von der Unschuld des »Demel«-Chefs überzeugt ist,  erscheint Ende 1987 – zehn Jahre nach dem Untergang bzw. nach vierjähriger Recherchearbeit – das erwähnte Lucona-Buch (PRETTEREBNER), das sich gegen 22 Beschlagnahmeanträge durchsetzen und in über 50 Prozessen behaupten muss. Der Journalist, der den überlebenden Lucona-Kapitän in Costa Rica als Zeuge ausgegraben hat, kann diesen für eine Pressekonferenz gewinnen, die aus Sicherheitsgründen in Zürich stattfindet: Der Ex-Lucona-Kapitän erhebt öffentlich Anklage wegen Mordes.

In Wien widersetzt sich der Oberstaatsanwalt erneut dem Ansinnen seines ›kleinen‹ Staatsanwaltes, PROKSCH und Kompagnon verhaften zu lassen. Allerdings wird es jetzt dem Demel-Chef in Österreich zu heiß – er flüchtet über Umwege auf die Philippinen und unterzieht sich dort einer Gesichtsoperation. Jetzt kann das österreichische Justizsystem nicht mehr alles deckeln: Die Staatsanwaltschaft muss Anklage wegen Versicherungsbetruges und »Gefährdung durch Sprengmittel« erheben. Denn inzwischen hat auch ein hochrangiger Major des Bundesheeres eingestanden, »Herrn Udo« hochexplosiven Sprengstoff ausgehändigt zu haben – im Einverständnis mit dem (inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilenden) Verteidigungsminister.

Der internationale Haftbefehl fruchtet wenig, und auch die Interpol-Fahndung bleibt ohne Erfolg. Als der Lucona-Kapitän auch in Deutschland Anzeige wegen Mordes gegen den deutschen PROKSCH-Kumpan Hans Peter DAIMLER, ein Spross aus der schwäbischen Autobauer-Dynastie, erstattet, kommt 1989 auch das Parlament nicht (mehr) umhin, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der rasch zu Potte kommt und Aufräumungsarbeit leistet (vgl. S. 171 ff): Der Innenminister sowie der Außen-minister, der dieses Amt zwischenzeitlich mit dem des Nationalratspräsidenten getauscht hat, müssen zurücktreten; der Gerichtspräsident, der eine ganze Reihe von Richterkollegen unter Druck gesetzt hatte, wird kurzfristig verhaftet und suspendiert.

Udo PROKSCH, der immer noch davon überzeugt ist, dass ihm keiner was anhaben kann, will sich freiwillig stellen, kehrt nach Europa zurück, entscheidet sich aber dann doch anders, wird aber trotz eines gefälschten Passes und veränderten Aussehens – sozusagen mehr oder weniger aus Versehen – beim Grenzübertritt nach Österreich bzw. auf dem Wiener Flughafen verhaftet. 1990 kann der Schwurgerichtsprozess beginnen. Udo PROKSCH zieht seinen letzten Joker: Kein Mord ohne Leichen, kein Schiffsuntergang ohne Schiff! Anders gesagt: Wo ist die Lucona?

Der Vorsitzende Richter muss passen. Er beschließt, im Indischen Ozean das Wrack zu suchen. Umgerechnet 10 Millionen Mark soll das kosten –  der Richter gerät unter Druck. Vier ganze Wochen sind für die Suche in dem rekonstruierten Unglücksgebiet angesetzt, und diese vier Wochen enden ohne Ergebnis.

Ein MItarbeiter der Expedition, der die Berechnungen der vom Gericht herangezogenen Gutachter in Frage zu stellen bereit ist und sich stattdessen auf die Aussagen der Überlebenden stützt und nochmals neu Koordinaten und mögliche alternative Varianten berechnet, kann den anwesenden Richter überreden, einen weiteren Tag zu investieren und an einer ganz anderen Stelle außerhalb des offiziellen Zielgebiets zu suchen. Dort wird man – sozusagen in allerletzter Minute – fündig: Die Lucona liegt in 4.197 Metern Tiefe an einer der tiefsten Stellen im Indischen Ozean.

1991 wird in Wien »Herr Udo« wegen Versicherungsbetruges und Mordes zu 20 Jahren Haft verurteilt. In Deutschland wird sein Kumpan, »der Daimler von Mercedes«, ebenfalls verhaftet. Dessen Prozess in Kiel wird fünf Jahre dauern, weil die Verteidiger alle Unterlagen und Akten aus Österreich anzweifeln. So muss alles erneut rekonstruiert, bewiesen und belegt werden: 120 Zeugen treten auf, 17 Sachverständige werden geladen, rund 15.000 Dokumente verlesen. Nach fünf Jahren zähen Ringens um die neuerliche Wahrheitsfindung machen Staatsanwaltschaft und Angeklagter 1997 einen Deal: DAIMLER packt (teilweise) aus und bekommt – 20 Jahre nach der Explosion – nur 14 Jahre Haft aufgebrummt. Abzüglich der U-Haft und alles verrechnet mit »guter Führung« ist »der Daimler von Mercedes« bereits im Jahre 2001 wieder ein freier Mann.

Wer sich für das eher unspektakuläre Ende dieser Affäre interessiert, also dafür, dass der Innenminister, der wenige Tage nach einer belastenden Aussage eines höheren Polizeidirektors vor dem PUA in Wien ganz schnell zurückgetreten ist und 1992 von einem Gericht vom Vorwurf des »Amtsmissbrauch« freigesprochen, aber wegen »Anstiftung zur Unterdrückung von Beweismitteln« verurteilt wurde, oder wer wissen möchte, dass der Außenminister, der vormals erst Oberbürgermeister von Wien, dann Unterrichts-, danach Außenminister wurde und zuletzt als Präsident des Nationalrats (vergleichbar mit dem Deutschen Bundestag) obwaltete und ebenfalls zurücktreten musste und für seine Rolle im Fall Lucona wegen falscher Zeugenaussage zu einer Geldstrafe verurteilt wurde (er ist bis heute Ehrenvorsitzender der SPÖ), oder wer daran interessiert ist, wie es tatsächlich noch dazu kommen konnte, dass der erwähnte Gerichtspräsident wegen Amtsmissbrauch und falscher Zeugenaussage eine Geldstrafe aufgebrummt bekam und zusätzlich zu 5 Monaten Haft verurteilt wurde – auf Bewährung, versteht sich, der lese diese Details, die allesamt eigene Stories inmitten der großen Geschichte darstellen, in den beiden bereits erwähnten Büchern nach. Auch die sonstigen Toten (z.B. zwei Manager der Versicherung) und aufgefundenen Leichen, die diese Affäre begleiten und hier nicht erwähnt wurden, sind Gegenstand ausführlicher Rekonstruktion in den beiden Standardwerken des österreichischen Journalisten und Publizisten Hans PRETTEREBNER.

Dies ist das grundsätzliche Problem dabei, wenn man beim Suchen nach einer – für einen selbst rekonstruierbaren – Wirklichkeit bzw. Recherche oder beim Abschätzen von potenziell möglichen Szenarien, die man zumindest nicht ausschließen möchte und daher überprüfen müsste, vor eben dieser Frage steht, ob auch das Unmögliche, das eigentlich überhaupt nicht als real, sondern allenfalls als einfallsreicher und deshalb fiktiver Plot eines Romanschreibers vorstellbar ist, wirklich als ernsthafte Alternative in Betracht gezogen werden soll. Schließlich nimmt jedes Szenario, dem man nachgehen möchte, Zeit und Aufwand in Anspruch, was man meistens nicht im notwendigen Umfang zur Verfügung hat.

Auch dem Lucona-Rechercheur war dies so gegangen. Er suchte nämlich zunächst nach Entlastungsindizien, als er sich 1984 dieser Geschichte angenommen hatte – der »Herr Udo« war in Wien schließlich einer der prominentesten und beliebtesten Personen: charmant und witzig, agil und offen gegenüber jeder neuen Idee bzw. in einem Wort: eigentlich jedem ausgesprochen sympathisch. Dahinter indes verbarg sich – und dies war das Schlüsselerlebnis für den Buchautor – ein gerissener und kaltblütig agierender Geschäftsmann, der auch über Leichen ging. Das Zweite, was sich Hans PRETTEREBNER nicht wirklich vorstellen konnte, obwohl er schon häufig zuvor Gelegenheit hatte, das seinerzeit wenig medienfreundliche Presserecht des Alpenstaates kennen zu lernen, war der Umstand, dass die Justiz auf allen Ebenen jegliche Art von Ermittlungen – vor und nach der Buchveröffentlichung – systematisch abwürgen, behindern und blockieren würde.

Im Nachhinein, also zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Unvorstellbare als Realität erwiesen hatte, wird dies alles verständlich. Wenn sich alles, was Rang und Namen, Amt und Funktion, Macht und Einfluss hat, in einer mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaft, dem Club 45, ein regelmäßiges Stelldichein gibt – angefangen vom Intendanten des ORF sowie vom Herausgeber bzw. Chefredakteur der Kronen-Zeitung (vergleich in Deutschland mit »Bild«) und weiter über die politischen Macht- und Würdenträger (Polizeipräsident, Innen-, Außen- und Verteidigungsminister) und nochmals weiter über alle Generaldirektoren der großen Banken einschließlich der Chefs der Baugiganten bis hin zu den Repräsentanten des Justizapparates (Oberstaatsanwalt, Gerichtspräsident), dann wird die Reichweite eines solchen »Netzwerks der Macht« auch für den letzten, der sich solches nicht vorstellen kann (darf), begreifbar.