Kennzeichen „unerwünscht“. Über „Muckraker“, „Schweinejournalismus“ und „journalistische Todesschwadronen“. Eine kleine Zeitreise von Upton SINCLAIR bis Christian WULFF

»Enthüllungen« – so ein deutschsprachiger Begriff – über bisher unbekannte Sachverhalte bzw. unterschlagene Wirklichkeiten, die der öffentlichen Aufklärung dienen, sind in der Regel unerwünscht – zumindest aus der Sicht derer, die Objekt der Recherchen sind. Auch dieses Charakteristikum ließe sich als relevantes Kriterium für investigativen Journalismus heranziehen.

So hatte beispielsweise der Publizist Günter WALLRAFF 1969 ein Buch mit »13 unerwünschten Reportagen« veröffentlicht, in denen er aus dem Innenleben großer Konzerne berichtet hatte, in denen er sich mal als Pförtner, mal als Chauffeur ganz regulär als Arbeiter hatte einstellen lassen (vgl. das Kapitel Der Vordenker. Und Vormacher: Günter WALLRAFF).

In Großbritannien, das den Weg der Pressefreiheit bereits seit dem 17. Jahrhundert beschritten hatte, unterscheidet man deshalb auch eine eigene Journalismustradition, die des »dissenting journalism«. Diese zielt darauf ab, dass sich die Medien zur Wahrnehmung ihrer öffentlichen Kontrollfunktion ganz generell als Gegenseite zur politischen und/oder wirtschaftlichen Macht verstehen müssen. Der Begriff »Fourth Estate« (Vierte Gewalt), der in diesem Zusammenhang entstanden ist, ist deshalb alt – er stammt aus der Mitte des 19. Jahrhundert. In den USA hat diese Mentalität, den Oberen auf die Finger zu schauen, später, dafür aber nicht minder nachhaltig, eingesetzt. Im deutschen Sprachraum ist eine solche Einstellung, die Medien als eigenständige Kontrollinstanz (»Watchdog«) zu begreifen, noch vergleichsweise unterentwickelt.

Wie unerwünscht Recherchen bzw. die Thematisierung vorenthaltener Wirklichkeiten sind, sei an drei prominenten Beispielen illustriert. Sie sind jeweils Indizien für die politische Kultur. Gleichzeitig machen sie das kulturelle Umfeld deutlich, in dem sich investigativer Journalismus bewegt.

Für seine Recherchen über die Produktions- und Lebensbedingungen in den Schlachthöfen, die vor allem billige, weil vielfach illegal eingewanderte Arbeitskräfte beschäftigen, lässt sich der amerikanische Publizist Upton SINCLAIR (1878-1968) selbst als Arbeiter einstellen. Seine Reportagen, die zunächst in einer Zeitschrift erscheinen, dananch 1906 als Buch mit dem Titel »Der Dschungel« (The Jungle) veröffentlicht werden, lösen mehrere Ereignisse aus: Aufgrund der detaillierten Schilderung der unhygienischen Verhältnisse geht zunächst der Fleischverbrauch zurück – jetzt hat die Schlachtindustrie selbst ein Interesse an Verbesserungen. Diese kommen zunächst in Gestalt einer Untersuchungskommission, danach in Form eines Gesetzes, das entsprechende Mindestanforderungen an die Hygiene und Schutzvorschriften erlässt.

US-Präsident Theodor ROOSEVELT jedoch fühlt sich durch solch unbotmäßige Berichterstattung in seiner Regierungsarbeit gestört und belegt den Journalisten mit einem Schimpfwort: »muckraker«. Wörtlich übersetzt hieße dies »Schmutzaufwirbler«; gemeint ist jemand, der im Dreck wühlt, der ihn nichts angeht. Ist die Bezeichnung »muckraker« im Angelsächsischen längst zu einem Fachbegriff avanciert bzw. steht »muckraking« dort inzwischen synonym für »investigative reporting« und wird von der Branche selbst als Markenzeichen verstanden, so stehen in Deutschland immer noch zwei deftigere Begriffe im Raum, die ihre Schöpfer, zwei bekannte Politiker aus dem zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert, bisher nicht zurückgenommen haben:

Der Flick-Konzern, der in den 70er Jahren beim Verkauf seiner Beteiligung an der Daimler Benz AG rund 1 Mrd. Euro Gewinn erzielt hatte und davon eigentlich rund die Hälfte an Steuern zahlen müsste, will statt dessen eine Sonder- bzw. Ausnahmevorschrift in Anspruch nehmen, die allerdings eine politische Bescheinigung über die »volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit« der steuerfreien Wiederanlage (nach § 6b EStG) seitens der Bundesregierung voraussetzt. Flick, der wie andere Unternehmen seit Jahrzehnten die  Parteien CDU und CSU, sowie die in der sozialliberalen Koalition mitregierende FDP mit großzügigen Geldzuwendungen bedachte, die zum Teil als offizielle Parteispenden durch die Bücher gehen, zum anderen Teil indes bar und in braunen Briefumschlägen den Politikern direkt ausgehändigt werden, managt diese Art von Geldzahlungen von jetzt ab zielgerichteter: (Informelle) Gespräche finden nunmehr in sehr engem zeitlichen Zusammenhang mit Geldzahlungen statt. Diese und andere Praktiken, z.B. Parteispenden im Wege der Geldwäsche über die »Staatsbürgerliche Vereinigung 1954 e.V.« in Rheinland-Pfalz (Ministerpräsident: Helmut KOHL, gleichzeitig CDU-Parteivorsitzender und Mitglied im Bundestag), werden später Gegenstand erst eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Bonn, danach auch von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die in mehreren Strafprozessen münden.

Einige Medien, allen voran DER SPIEGEL (z.B. 9/1982; 48/1983; 49/1983; 43/1984) berichten seit Anfang der 80er Jahre regelmäßig und detailliert über diverse Praktiken und auch über die Rolle des Bundeswirtschaftsministers Otto Graf LAMBSDORFF, FDP, die die Richter 1987 so auf den Punkt bringen: »Im Rahmen einer sorgfältigen Planung … wurden Wege zur verschleierten Mittelabführung an den Landesverband eröffnet, die so geschickt angelegt waren, dass sie selbst bei den von den Finanzämtern Bonn und Neuwied durchgeführten Betriebsprüfungen nicht aufgedeckt … werden konnten … So ist dem Angeklagten … das zweifelhafte Verdienst zuzurechnen, für eine noch breitere Streuung der Transferstationen im In- und Ausland gesorgt und damit eine noch bessere Tarnung des Ausgabeverhaltens der Vereine ermöglicht zu haben.« (Urteil des LG Bonn v. 16.2.1987, Az: 27 F 7/83, S. 896). LAMBSDORFF wird wegen fortgesetzter Beihilfe zur Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt (15 Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung). Bestechung bzw. Bestechlichkeit halten die Richter für nicht erwiesen – sie äußern aber den »erheblichen Verdacht« (S. 315, s.o.), dass es gerade im Falle des Flick-Konzerns »einen direkten Zusammenhang mit den beantragten steuerlichen Vergünstigungen« gegeben habe und dies seitens der zuständigen Minister »erkannt und gebilligt worden ist« (S. 421, s.o.). LAMBSDORFF, der später den Parteivorsitz der FDP übernimmt, äußert sich 1993 ziemlich ungehalten über die aufklärende Rolle der Medien in dieser Angelegenheit, spricht von »journalistischen Todesschwadronen« und »Hinrichtungsjournalismus«.

Auch der saarländische Ministerpräsident Oskar LAFONTAINE, SPD, der 1992 das kleine Bundesland wie ein »französisch angehauchter Barockfürst« mit absoluter Mehrheit regiert, ist ob eines sehr kritischen SPIEGEL-Berichts (20/1992) nebst fotografischer Karrikatur auf der Titelseite »Die Luxus-Politiker – Selbstbedienung im Staate Lafontaine« sehr verärgert: Schließlich muss er – nach einer Überprüfung der Vorwürfe durch den Rechnungshof – 228.772,08 DM zurückzahlen, weil er zu seinem Sold als Ministerpräsident zusätzlich »rechtswidrige« Pensionsbezüge aus seinem zuvorigen Amt als OB von Saarbrücken kassierte (SPIEGEL 23/1992). In einem Buchbeitrag macht der gescholtene Politiker seinem Ärger Luft – er  spricht von den Medien als modernem »Pranger« und hat auch einen für ihn passenden Vergleich zur Hand: »Die Personifizierung des Sündenbocks war den Meistern der Propaganda zu allen Zeiten geläufig. ›Der Jude hat einen Namen‹ – bläute schon Goebbels der Nazi-Presse ein« (LAFONTAINE 1992: 107).

Nur wenig später, Anfang 1993, ist LAFONTAINE erneut Objekt einer »SPIEGEL«-Geschichte (3/1993), in der sehr merkwürdige Verbindungen zwischen ihm, einem Parteifreund, der gleichzeitig SPD-Landesvorsitzender ist, sowie einem im französischen Metz in Haft einsitzenden Schwerkriminellen beschrieben werden. Letzterer ist in Deutschland wegen Mordverdachts angeklagt, konnte aber unter nie geklärten Umständen aus dem Saarbrücker Knast entweichen, wurde unglücklicherweise in Frankreich wieder aufgegriffen und dort wegen eines bewaffneten Raubüberfalls verurteilt: eine seltsame Dreiecksbeziehung.

Weitere Details, wie dieser Unterweltler und ehemalige Chef eines einschlägigen Saarbrückener Etablissements, in dem auch LAFONTAINE Besucher war, bei der saarländischen Regierung aus dem Gefängnis heraus ungewöhnliche Gefälligkeiten durchsetzen kann, breitet DER SPIEGEL in seiner darauf folgenden Ausgabe aus (4/1993). In einer weiteren Ausgabe (5/1993) kann das Nachrichtenmagazin mit noch mehr ungewöhnlichen Informationen aufwarten: LAFONTAINE’s Leibwächter, ehemals Anführer einer verschrieenen Rockerbande, habe – unter Umgehung sämtlicher Dienstwege –  dem in Metz einsitzenden Verbrecher, mit dem er seit Jahren befreundet ist, einen informellen Besuch abgestattet, nachdem dieser gedroht hatte, bei Nichtbegnadigung im Saarland »auszupacken«. In dieser Atmosphäre – im saarländischen Landtag bemüht sich derweil die CDU-Opposition vergeblich um Aufklärung – verbreitet der NDR am 15.2.93 um 16 Uhr bundesweit eine Presseerklärung: »Verdacht der Strafvereitelung durch Lafontaine – Saarbrücker Staatsanwaltschaft ermittelt nicht«. Für die »panorama«-Sendung am selben Abend wird ein Interview mit einem Kronzeugen angekündigt: Bei Razzien im Saarbrücker Milieu habe es für bestimmte Lokalitäten telefonische Vorwarnungen durch den damaligen OB, Oskar LAFONTAINE, gegeben.

Film und Interview gehen nicht über den Sender: Vier Minuten vor Sendebeginn blockiert eine einstweilige Verfügung aus Saarbrücken die Ausstrahlung. Noch im gleichen Jahr gewinnt der NDR den Rechtsstreit in fast allen Punkten – LAFONTAINE muss deshalb die Prozesskosten zu zwei Dritteln, d.h. rd. 8.300 DM, selbst bezahlen – er lässt das Geld aus der Parteikasse der Saar-SPD anweisen. Der saarländische Ministerpräsident macht noch am Tag der verhinderten Fernsehsendung in seiner Landesvertretung in Bonn gegenüber anwesenden Journalisten lauthals deutlich, was er denkt: »Schweinejournalismus«.

Und so ändern sich die Zeiten nicht wirklich. Als im Zusammenhang mit der Schwarzgeld-Affäre der CDU ab 1999 der Schatzmeister der hessischen CDU, Manfred KANTHER, Anfang 2000 entnervt sein Amt aufgibt und sein Bundestagsmandat niederlegt, weil er alle Schuld im Zusammenhang mit hinterzogenen und schwarz gewaschenen Parteispendengeldern auf sich nimmt (vgl. www.ansTageslicht.de/Zaunkoenig), sagt er wortwörtlich zu den Journalisten: „Die Treibjagd ist zu Ende!„. KANTHER, der sich als ehemaliger Bundesinnenminister (1993-1998) als „Law-and-Order-Man“ verstanden hatte, wurde 2007 wegen Untreue zu einer Geldstrafe (54.000 €) verurteilt.

Und auch der wegen „Betrugs“, konkret wegen seiner Doktorarbeit (Plagiat) zurückgetretene Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu GUTTENBERG, CSU), sah sich als Opfer einer Medienkampagne. Und zeigte keinerlei Einsicht in seine Fehler. Genausowenig wir Christian WULFF, zeitweise Bundespräsident, dessen Nieder- und späterer freiwilliger Abgang mit einem Drohanruf beim Chefredakteur der BILD-Zeitung im Dezember 2011 begann. In seinem 2014 veröffentlichten und medial groß inszenierten Buch „Ganz oben. Ganz unten“ sind es die Medien, die für sein jetztiges „ganz unten“ verantwortlich sind: allen voran die BILD-Zeitung, die ihn seinerzeit „hochgeschrieben“ hatte, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und DER SPIEGEL – alle vereint in einer „Art von Medienkartell“, wie er wortwörtlich sagt.

Die Ergebnisse dieser kleinen Zeitreise durch 100 Jahre werden sich im nächsten Jahrhundert (vermutlich) nicht ändern. Allenfalls die Begrifflichkeiten.