Kooperationsbeispiel 1: SZ, kicker, dpa und Ruhr-Nachrichten – Ergänzung zu Kapitel 7.3

Ausgangspunkt ist ein befreundetes Journalisten-Duo, das nicht nur gemeinsam recherchierte und publizierte, sondern aufgrund des konsequenten Dranbleibens eine Vorreiterrolle für viele andere übernommen hatte, die sich an die Geschichte zunächst nicht herangetrauten. Es geht um die Affäre des vor der finanziellen Pleite stehenden Fußballclubs Borussia Dortmund  im Jahre 2003. Die Autoren: Thomas HENNECKE von der Fußballzeitschrift kicker sowie Freddie RÖCKENHAUS, hauptberuflich Filmemacher, aber in seiner Eigenschaft als ausgewiesener Anhänger des Fußballclubs regelmäßig auch als schreibender Freelancer für die Süddeutsche Zeitung tätig. Die beiden Medien konkurrier(t)en miteinander nicht, jedenfalls nicht mit ihrer Leserschaft. Der in Frage stehende Recherchestoff hätte grundsätzlich Konkurrenz bedeutet. Beide bekamen 2005 den Henri-Nannen-Preis für die »beste investigative Leistung« zugesprochen.

Borussia Dortmund ist ein ganz besonderer Verein, vor allem wegen seiner übergroßen Schar überzeugter Anhänger und Fans. Wenig Vereine weltweit vermögen ihre Stadien regelmäßig so zu füllen wie dies im industriell ausgebrannten Dortmund (Kohle, Stahl, Bier) der Fall ist. Nach den Erfolgen Ende der 90er Jahre geht der Club an die Börse, man will vom Börsenboom profitieren. Zu diesem Behufe gibt es neben dem traditionellen Verein BVB (Ballspielverein Borussia 09 e.V.) plötzlich ein Unternehmen namens Borussia Dortmund GmbH & Co.KGaA sowie eine dazugehörige Komplementärs-GmbH. »KGaA« heißt Kommanditgesellschaft auf Aktien, und anders als bei einer  sonstigen GmbH & Co.KG, bei der die Kommanditisten die eigentlichen Inhaber sind und deshalb den Ton angeben, haben die Aktionäre in diesem Fall nur Geldgeberfunktion.

Geld, sprich eigenes, also Eigenkapital ist auch das, was mit dem Börsengang bezweckt wird und es kommen bei dieser Gelegenheit 143 Mill. Euro in die Kasse. Das Geld wird dringend benötigt, denn Borussia will auf Dauer hoch hinaus und deshalb in »Steine und Beine« investieren.

Derjenige, der sowohl im traditionellen Verein als auch in dem jetzt auf dem Börsenparkett notierten Unternehmen das Sagen hat, ist der allgewaltige Präsident und gleichzeitig auch Geschäftsführer der geschäftsführenden Komplementärs-GmbH: Präsident Dr. Gerd NIEBAUM, Rechtsanwalt von Beruf. Rund 14 Jahre macht er das schon und er lässt keinerlei Zweifel daran, dass er diese ›Aufgabe‹ noch viele weitere Jahre auszufüllen gedenkt. Sein Einfluss und seine (Haus-)Macht sind ungebrochen. Ihm zur Seite sekundiert ein zweiter Geschäftsführer, mehr oder weniger zuständig für den Alltagskram.

Borussia Dortmund schwelgt: in Geld und Ruhm. Gigantische Transfersummen werden in neue Spieler investiert – 2001 wird erstmals die deutsche Schallmauer von 20 Mill. Mark durchbrochen. Allein 2000 und 2001 gibt der Verein runde 100 Millionen für Ablösegelder aus.

Der Ruhm nährt sich aus sportlichem Erfolg – gekrönt 2002 mit der Deutschen Meisterschaft durch einen Sieg über den Erzrivalen Bayern München. Die treue Schar der Anhänger ist außer Rand und Band.

Dass der allgewaltige Präsident 2003 einen teuer eingekauften Spieler aus Brasilien an den italienischen Fußballclub Parma ›verkauft‹, um damit die Bilanz der KGaA am letztmöglichen Tag etwas aufzuhübschen, dass man einen anderen italienischen Star ebenfalls ›zurückgegeben‹ hatte, um ihn dann im sale-and-lease-back-Verfahren wieder ›zurück zu gewinnen‹, dass man die teuren Spieler u.a. über den Weg steuerlicher Spartricks, beispielweise im Rahmen von steuerbegünstigter »Nacht- und Sonntagsarbeit« (§ 3b EStG) bezahlt, wie dies DER SPIEGEL am 22.9.2003 rapportiert, und dass die Spieler eine 20 %ige Gehaltskürzung ›freiwillig‹ akzeptiert hatten, all diese vielen Merkwürdigkeiten will niemand wirklich zur Kenntnis nehmen.

Verein und KGaA sind – nach den letzten Erfolgsjahren – inzwischen pleite: Seit der verpassten Qualifikation für die Champions League und dem jähen Aus in der  zweiten Uefa-Cup-Runde gegen einen völlig bedeutungslosen Verein aus Frankreich fehlen viele Millionen aus nun nicht mehr möglichen Einnahmen. Präsident NIEBAUM und sein Adlatus MEIER haben deshalb schon länger die Fühler nach London zu einem bekannten Finanzjongleur ausgestreckt: Mit einer 80 bis 100 Mill.  Euro schweren Anleihe will man sich am eigenen Kragen aus dem finanziellen Sumpf ziehen – gegen Verpfändung der Einnahmen für die nächsten 12 Jahre. Etwa eine Handvoll gut informierter Journalisten wissen Ende 2003 um diese Zusammenhänge und können diese auch einschätzen.

Dazu gehören Freddie RÖCKENHAUS vor Ort, der schon immer für die SZ über Borussia – nebenher sozusagen – geschrieben hatte, und Thomas HENNECKE von der Zeitschrift kicker in Nürnberg, der in der Außenstelle West das Fußballgeschehen bearbeitet. Beide sind Kollegen und kennen sich schon länger, beide beobachten auch Borussia schon eine ganze Weile etwas misstrauischer, sammeln zu dieser und jener offenkundigen Merkwürdigkeit weitere Informationen und Fakten und tauschen sich bei Gelegenheit darüber aus: Finanziell steht Borussia ganz offensichtlich kurz vor dem Crash.

Angesichts der Identität vieler Informationen, über die beide verfügen, ist man sich schnell einig, gemeinsam eine oder mehrere Geschichten darüber zu machen. Beide Blätter konkurrieren untereinander nicht. Die wichtigste Verabredung: Veröffentlichung vor allem montags, wenn beide Blätter gleichzeitig erscheinen, oder donnerstags.

Zwei Tage vor Weihnachten, am 22.12.2003, ist es soweit. Beide Publikationen schlagen ein wie eine Bombe: »Borussia vor dem Finanzchrash« heißt es in der SZ, »100.000.000 !« – die Summe des benötigten Geldes – titelt der Kicker.  Dass das Nachrichtenmagazin Focus genau eine Woche zuvor mit einer ähnlichen, aber nicht ganz so detaillierten Enthüllung aufgewartet hatte, stört das Reporter-Duo nicht.

Erstens hat man selber zusammen mehr an Informationen als alle anderen. Die gemeinsame Schnittmenge liegt bei 80 %. Dazu kommen weitere 20 %, die jeweils exklusiv gewonnen sind, aber gemeinsam verwertet werden.

Zweitens hat sich offenbar niemand über die Focus-Fakten echauffiert, auch nicht bei Borussia Dortmund. Dort stößt aber die publizistische Attacke aus Nürnberg und München auf. In einer eilends zusammengetrommelten Pressekonferenz bestreiten die beiden Borussia-Macher vehement dass sich der Verein bzw. die KGaA in einem Liquiditätsengpass befänden. Allerdings: »Es hat keiner gesagt, dass die Fakten falsch sind.«

Über diese Pressekonferenz berichten jetzt alle – zu widersprüchlich fielen die Antworten aus, zu vieles wurde dementiert, was niemand behauptet hatte und auf manche Fragen mochten der Präsident und sein Geschäftsführer überhaupt nicht antworten. Auch bei den Ruhr Nachrichten, einer der beiden Lokal- bzw. Regionalzeitungen vor Ort, erkennt man die Brisanz: Eigens für diese Geschichte wird ein vierköpfiges Rechercheteam bestehend aus 2 Redakteuren der Sport- und je einem aus Wirtschafts- und Lokalredaktion zusammengestellt. Obwohl die Ruhr Nachrichten vertraglich »Medienpartner« des Fußballclubs sind: Recherchiert wird trotzdem.

Jetzt hat die Affäre soviel an Eigendynamik gewonnen, dass sie sich nicht mehr ausbremsen lässt: DER SPIEGEL berichtet kurz drauf: »Die zahlen schlampig«. Anfang Januar des neuen Jahres legen SZ und kicker nach: »Das Vertrauen der Banken ist nachhaltig erschüttert«.  Kurz darauf setzt die erste Bank die Borussia-Aktie auf »underperform« herunter. Die Ruhr Nachrichten können konkret ausbleibende Zahlungsverpflichtungen benennen.  Weitere Veröffentlichungen (z.B. SPIEGEL am 26.2.04: »Abpfiff für die fetten Jahre«, am 29.1.04 DIE ZEIT: »Größenwahn AG«) vervollständigen immer mehr das Bild, das das Reporter-Duo zu Anfang gezeichnet hatte. Die beiden Journalisten sind es auch, die das Tempo aller Recherchen und immer neuer Details vorgeben.

Das Zusammenführen von Mosaiksteinchen aus potenziell zwei unterschiedlichen Informantennetzwerken vergrößert und beschleunigt nicht nur zusammenhängende Erkenntnisse, sondern erhöht bei identischen Informationen die Sicherheit, wenn sie – potenziell – aus zwei unterschiedlichen Quellen stammen. Zunächst halten sich HENNECKE und RÖCKENHAUS mit ihren Quellen gegenseitig bedeckt. Als Authentizität und Faktizität der Informationen immer wichtiger werden, weil beide immer gezielter vorhandene, sprich juristisch sensible Informationsbarrieren durchstoßen, gleichen sie nicht nur die Informationen, sondern jetzt auch ihre Quellen ab, sehr sensible Informantenstränge ausgenommen.

Der Umstand, dass sich ›Seine Majestät‹ des Dortmunder Fußballs, Präsident NIEBAUM, im Februar 2004 mit juristischen Mitteln zu wehren beginnt, als SZ und Kicker mit konkreten Zahlen die Zahlungsunfähigkeit zu belegen beginnen, schweißt das Reporter-Duo zusammen: Was ursprünglich als begrenzte und lose Kooperation angedacht war, wird jetzt zur festen Institution. Zum einen sind es juristische Einschüchterungsszenarien, die eine weitere Zusammenarbeit als sinnvoll erscheinen lassen – gemeinsam ist man stärker. Zum anderen ist es aber auch die teilweise unverrückbare Wagenburgmentalität vieler Fans und am Dortmunder Fußballgeschehen interessierter Kreise. Ab und an ist es aber auch öffentlicher Druck – die Sportredaktion der mächtigen Bild-Zeitung und das Konkurrenzblatt der Ruhr Nachrichten, die Westfälische Rundschau, stehen noch immer zu bzw. hinter Präsident NIEBAUM. Der Sportredakteur dieser Zeitung ist mit NIEBAUM gut befreundet – er hält absolut nichts von den investigativen Recherchen des Reporter-Duos.

Der inhaltliche Arbeitszusammenhalt ist das eine. Um gegenzuhalten ist auch die perfektionierte interne Kommunikation unverzichtbar; »das lief wie bei einer Standleitung«, erinnert sich RÖCKENHAUS. Um ein Höchstmaß an publizistischer Wirkung zu erzielen, spielen beide auch über Bande: RÖCKENHAUS ist mit dem örtlichen dpa-Chef befreundet, der gegebenenfalls Vorabmeldungen produzieren und damit die mediale Aufmerksamkeit sensibilisieren kann. HENNECKE kennt Sascha FLIGGE sehr gut, einen der aktiven Sportreporter bei den Ruhr Nachrichten, der vor allem die lokalen Aspekte abdeckt. Letztlich wird für den nur sehr allmählich einsetzenden Stimmungswandel unter den Dortmunder Borussen die Lokalberichterstattung der Ruhr Nachrichten ausschlaggebend werden – Süddeutsche Zeitung und kicker sind für eingefleischte Borussianer weit weg.

Sehr zum Nutzen – zunächst – für den Präsidenten. Zwar muss er in der offiziellen Halbjahresbilanzpressekonferenz alles bestätigen, was die Medien längst an Horrorzahlen publik gemacht haben, aber an persönliche Konsequenzen will er nicht denken – trotz 30 Mill. Euro Verlust allein im ersten Halbjahr.  Bis zur Bilanzkonferenz im Oktober hat sich der Verlust sogar auf rd. 68 Millionen mehr als verdoppelt und der Schuldenberg des Vereins liegt jetzt bei knapp 120 Mill. Euro.

Borussia hat zu diesem Zeitpunkt sozuagen fast alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ: das eigene Stadion, die Namens- und Vermarktungsrechte daran. Und sportlich sind die Borussen längst auf dem absteigenden Ast, was weitere Mindereinnahmen zur Folge hat – Borussia steht jetzt endgültig vor der drohenden Insolvenz. Da findet man einen Investor: Florian HOMM, Enkel des Versandhausmillionärs Josef NECKERMANN, Börsenspekulant und Chef eines Hedge-Fonds. Der steigt mit 20 Millionen ein und wird damit größter Aktionär – ihm gehört jetzt sozusagen Borussia Dortmund. Was der Präsident in der Bilanzkonferenz verschweigt, können HENNECKE und RÖCKENHAUS am Montag, den 11.Oktober enthüllen: »Niebaum – wie lange noch?« fragt der kicker, »Entmachtung in drei Schritten« weiß die SZ zu berichten. Im Detail: Das bisherige Führungs-Duo, allen voran der Präsident mussten sich in einer internen Vereinbarung bereit erklären, abzutreten. Dies und anderes, beispielsweise die Zusage mehrerer Aufsichtsrats- und Beiratsposten für HOMM und seine Leute hatte NIEBAUM in höchster Not akzeptiert; es hätte dazu der Genehmigung seiner Gremien bedurft. Diese Nachrichten haben die Wirkung einer Bombe.

Jetzt sind die Ruhr Nachrichten am Zug und fragen beim Präsidenten nach: Der streitet ab, gehen zu wollen oder zu müssen. Und legt nach: mit einer Presseerklärung, in der er nochmals betont, dass es keine sonstigen Vereinbarungen gegeben habe. Großaktionär HOMM leistet Schützenhilfe: mit einem persönlichen Brief an NIEBAUM, den dieser wiederum in einer neuerlichen Presseerklärung zitiert – offenbar eine gutkalkulierte Falle des neuen Großaktionärs: NIEBAUM kann sich die nächsten beiden Tage nochmals bzw. ein letztes Mal als Märtyrer verkaufen – der regionale Chef der Bild-Zeitung steht immer noch hinter ihm.

Mittwoch abend, bevor Tags drauf am 14.10.2004 kicker und SZ wieder reagieren (können), ist auch den Allerletzten klar, dass die Geschichte gelaufen ist: NIEBAUM, sein geschäftsführender Adlatus MEIER und Großaktionär HOMM haben gelogen. In der SZ kann jeder die Vereinbarung als Faksimile studieren, was NIEBAUM – rapportiert durch Bild-Zeitung und Westfälische Rundschau – als »bösartige und wilde Spekulation«, als »dummes Zeug« usw. bezeichnet hatte: die fragliche Vereinbarung, die alle drei abgestritten haben, existiert, sie ist sogar von allen, z.B. NIEBAUM und HOMM,  persönlich unterschrieben.

Jetzt muss auch die Bild-Zeitung, NIEBAUMS letzte Schutzbastion, einlenken – die hatte dienstags noch eine »Fälschung« suggeriert. Offenbar ist es die Hamburger Chefredaktion, die ihre regionalen Mannen zur Ordnung ruft. Am Freitag lautet die Titelzeile von Bild: »Dr. Lügenbaum – Er klebt an seinem Stuhl«.

Das macht Dr. NIEBAUM nur noch bis zur Hauptversammlung der KGaA im November – es ist ein Abtreten auf Raten, zunächst als Präsident, danach als Geschäftsführer der Komplementärs-GmbH. Zweitgeschäftsführer MEIER muss ebenfalls wegtreten, noch später.

Für das Reporter-Duo ist die Angelegenheit noch lange nicht zu Ende. Zwar ist die Pleite abgewendet, aber das weitere finanzielle und sportliche Überleben weiter unklar – ausreichend Stoff, aus dem weitere Geschichten entstehen.

Auch wenn das Ganze ausgeht »wie das Hornberger Schießen«, so jedenfalls HENNECKE,  so stellt sich – erst recht in solchen Fällen – die Frage nach der relevanten Alternative: Wie wäre die Geschichte weiter- bzw. letztendlich ausgegangen, hätte das Journalisten-Duo nicht damit begonnen, zu recherchieren? Weiterwurschteln wie bisher? Am Ende dann (doch) die totale Pleite des Vereins? Niemand kann das nachträglich sagen. Sicher ist nur: Die journalistische Kooperation war arbeitstechnisch sehr effektiv und hatte publizistisch gesehen sehr hohe Aufmerksamkeitseffekte. Das journalistische Netzwerk hatte sich als sehr stabil erwiesen, weil es auf nachhaltigen privaten Beziehungen basierte. Eine kollegiale Freundschaft indes ging zu Bruch, weil der Sportredakteur der Westfälischen Rundschau, der bis zuletzt hinter »Dr. Lügenbaum« gestanden und uneinsichtig bis zum Schluß seinen befreundeten Kollegen vom kicker mit den übelsten Vorwürfen attaktiert hatte.

Die ganze Geschichte und ihre Rekonstruktion ist noch ausführlicher dokumentiert unter www.ansTageslicht.de/Borussia.