Chronik eines rätselhaften Todes, Teil 1

Dies ist der erste ausführliche Bericht in der Berliner Morgenpost aus dem Jahr 2002 (10. Januar), der sich auf die Darstellung der Mind-Mapping-Grafik bezieht. Hintergrund: Der seltsame Tod eines jungen Mannes, der im Zusammenhang mit der Berliner Bankgesellschafts-Affäre Informationen ‚verkaufen‘ wollte. Wir können die beiden Artikel mit Genehmigung der Zeitung hier präsentieren.Die Autorendamals: Olaf JAHN (heute Geschäftsführer der Berliner Journalisten Schule) und Jens ANKER (Redakteur bei der Berliner Morgenpost).


Der frühere Aubis-Mitarbeiter Lars-Oliver P. verbreitete belastendes Material über die skandalumwitterte Firma – Er wollte mit Insider-Wissen Geld verdienen – Er hatte Angst vor seinen Ex-Arbeitgebern – Er galt als labil – Am 29. September wurde er tot im Grunewald gefunden – Mord oder Selbstmord?

Der Morgen des 23. September verspricht einen milden Spätsommertag. Der Rentner Wilfried Reinhardt spaziert vom Königsweg kommend am Grunewald-Sportplatz vorbei in den Wald. Er genießt die noch dünnen Sonnenstrahlen, während eine leichte Nordwest-Brise durch Kiefern und Birken streicht. Die Szene ist malerisch – bis Reinhard im Waldstück Jagen 59 eine schockierende Entdeckung macht: An einem Baum neben dem Weg hängt die Leiche eines Mannes. Der Zehlendorfer alarmiert die Polizei. Als der erste Einsatzwagen mit laufendem Martinshorn am Fundort eintrifft, verdirbt der durchdringende Signalton einem knapp 100 Meter entfernt kopulierendem Liebespaar den Spaß. Erschreckt ziehen sich die beiden ihre Hosen hoch. Bevor sie sich klammheimlich davonschleichen, fallen dem jungen Liebhaber zwei Papierschnipsel aus der Hosentasche.

Mit dieser skurrilen Szene beginnt ein Stück, wie es nur das Leben im Berliner Sumpf schreiben kann. Wie sich erst sehr viel später herausstellen soll, ist der Tote Lars-Oliver P., ein ehemaliger Mitarbeiter jener skandalumwitterten Aubis-Gruppe, deren Geschäfte im vergangenen Jahr entscheidend zum Sturz des Diepgen-Senats und zur völligen Neuordnung der Berliner Bankgesellschaft beigetragen haben. Der Mann hatte größtes Insider-Wissen über die Aubis-Geschäftspraktiken, und er wollte es versilbern. Sein Tod machte alle Kenner der Bankenkrise hellhörig. Nachdem die Polizei zunächst eindeutig von Selbstmord sprach, ermittelt sie inzwischen wegen Mordverdacht. Gleich zwei Abteilungen der Staatsanwaltschaft interessieren sich für die Leiche.

Mord oder Selbstmord? Bis heute gilt der grauige Fund offiziell als „Todesfall ungeklärter Ursache“. Eindeutige Spuren für ein Verbechen fehlen bisher ebenso wie überzeugende Gründe für einen Freitod. Klar ist nur, dass der Fall Lars-Olivber P. in einem gefährlichen Milieu spielt, in dem gnadenlos um Macht und Millionen gerungen wurde, in dem Angst, Erpressung und Widersprüche blühen – und in dem alles möglich erscheint.

Nach Berlin und an die Aubis-Gruppe war Lars-Oliver P. im Laufe des Jahres 1998 geraten. Bis dahin hatte der schmale Mann mit den Rotbäckchenwangen in Hamburg gelebt. Seine persönlichen Verhältnisse waren alles andere als ideal. Die Eltern waren geschieden und hatten mit ihrem Sohn lange Zeit eher wenig Kontakt. Eine Ehe ging in die Brüche, P. verlor mit der Scheidung nicht nur seine Ehefrau sondern auch seine Tochter. Nach einem EDV-Studium an der Fachhochschule Berliner Tor versuchte P. sich gemeinsam mit Freunden selbstständig zu machen. Doch das Internet-Cafe lief offenbar mehr schlecht als recht. Da kam ihm die Möglichkeit, bei Aubis zu arbeiten, wie gerufen. Er gab seine Hamburger Wohnung an der Lutherothstraße auf und zog in Berlin in ein Mietshaus . Neue Stadt. Neue Arbeit. Neues Glück?

Auf jeden Fall brachte ihm seine Stellung bei Aubis Verantwortung und Herrschaftswissen. Als Leiter der EDV-Abteilung, der nach eigenen Angaben zugleich als Sicherheitschef für Überwachungskameras und Alarmanlagen zuständig war, hatte er Zugang zum Herzen der Aubis-Gruppe. Er kannte die Wahrheit um die berühmt-berüchtigten Sanierungs-Konzepte der Firma, er sah Geldströme fließen und war oft dabei, wenn widerspenstige Gegenüber unter Druck gesetzt wurden. In der Aubis-Zentrale an der Lindenallee 33 nahm P. damit eine Schlüsselrolle ein. Ausgerechnet in einem Unternehmen, das – wie der Aubis-Untersuchungausschuss später feststellen sollte – für Plattenbau-Sanierungen unter äußerst fragwürdigen Umständen Kredite in Höhe von fast 700 Millionen Mark erhalten sollte. Ein großer Teil davon soll statt in Renovierungen in die Taschen der Aubis-Unternehmer Klaus-Hermann Wienhold und Christian Neuling geflossen sein. Bis heute ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin gegen die beiden Geschäftsmänner wegen des Verdachts auf Untreue und Betrug. Ein Verfahren, dass die Betroffenen im Zweifelsfall gewaltige Millionensummen und ihre berufliche Existenz kosten könnte.

Der Neueinsteiger aus Hamburg war für die Aubis-Chefs scheinbar von Beginn an ein Sicherheitsrisiko. Schon bald nach seinem Arbeitsantritt sagte er Bekannten, die dortigen Geschäftspraktiken seien unseriös und widerten ihn an. Immer wieder müsse er mitansehen, wie Geschäftspartner brutal unter Druck gesetzt würden. Er begann heimlich Daten zu sammeln. Er kopierte Disketten und Geschäftsunterlagen und schnürte damit ein Bündel, das spätestens zum Jahresbeginn 2001 hochexplosiv wurde. Damals wurde bekannt, dass CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky (er war zugleich Vorstandschef der BerlinHyp und Vorstand der Bankgesellschaft) vor den Abgeordnetenhauswahlen im Herbst 1995 von Aubis-Manager Klaus Wienhold eine private Barspende angenommen hatte. Just bevor die Bankmanager gegen internen Widerstand der Fachebene enorme Kredite an das Aubis-Duo durchdrückten. Nun begannen jene Untersuchungen und Ermittlungen zum Aubis-Komplex, die die Hauptstadt verändern sollten.

Ps Wissen hatte damit an Wert gewonnen – und der 32jährige Techniker glaubte offenbar an seine große Chance. Er wollte mit den Aubis-Kenntnissen einmal groß absahnen, erzählte er einem Freund: „Und dann setze ich mich ins Ausland ab“. Konsequent bot P. nun Medien und Ansprechpartnern aus dem Umfeld des Untersuchungs-Ausschusses Material an. „Ich gebe Ihnen erst einmal eine Diskette zur Ansicht“, erklärte er etwa, „mehr Daten gibt es dann für 10.000 Mark“. Wie brisant Ps Wissen war, zeigte sich am 14. Juni. An diesem Tag hatte die Staatsanwaltschaft erstmals genügend belastendes Material, um bei Aubis großflächig Hausdurchsuchungen durchzuführen. Auslöser waren Berichte, die sich entscheidend auf Ps Materialien stützten. Auch der Untersuchungsausschuss, der bis dahin in Hinblick auf Aubis im Dunkeln tappte, kam plötzlich voran: „Damals gelang ein wichtiger Durchbruch bei den Untersuchungen“, so ein Politiker zur Morgenpost.

Spätestens jetzt musste Wienhold und Neuling klar sein, dass sie ein gefährliches Leck im hausinternen Sicherheitssystem hatten. Und genau zu diesem Zeitpunkt bekam P. es mit der Angst zutun. Er fühle sich von den Aubis-Verantwortlichen bedroht, vertraute er Freunden an. Das Pflaster in Berlin wurde ihm zu heiß. Obwohl er mit Aubis noch über die Verlängerung eines Vertrages verhandelte und parallel am Aufbau eines eigenen Internet-Cafes am Mierendorff-Platz arbeitete, verließ P. die Hauptstadt unter dramatischen. Anfang Juli stopfte er in seiner Charlottenburger Wohnung eine Reisetasche mit Disketten und schriftlichen Unterlagen voll, alle säuberlich in mehrere Bündel verpackt. „Er verschwand für etwa vier Stunden. Dann kam er mit leeren Händen zurück“, berichtet ein Freund. P. sagte, er habe Beweismaterial an mehreren Stellen sicher versteckt.

Sofort danach setzte er sich nach Hamburg ab. „Ich muss mich verstecken, ich werde bedroht“, sagte er Freunden. Gehetzt zog er durch das Rotlicht-Milieu an der Reeperbahn, übernachtete mehrfach in Hinterzimmern von Nachtbars, in denen er die Fenster verhängte. Und er überlegte, wie er zu einer Waffe kommen könnte. Nach einigen Tagen fand er Unterschlupf bei einem ehemaligen Studienfreund.

In der Hansestadt erlebten Bekannte Dinge, die sie seit geraumer Zeit immer wieder stutzig gemacht hatten: „Lars-Oliver hatte in einem Moment Geld mehr in der Tasche. Dann verschwand er für kurze Zeit, und kam mit dicken Bündeln von Tausendmark-Scheinen zurück.“ Schon zuvor hatte P., der auch schon mal Kokain schnupfte, auf großem Fuße gelebt. Er trug Armani-Anzüge und kaufte an einigen Tagen gleich für zwei bis dreitausend Mark Klamotten oder Musikgeräte ein. Ein erstaunlicher Luxus für jemanden, der offiziell kaum mehr als 4500 Mark netto verdient hat. Woher kam dieser Geldsegen? Hatte P. jemanden erpresst? Und wenn ja, wen? Oder hatte er im Rotlicht-Milieu heiße Deals gewagt?

Diese Fragen sind bis heute unbeantwortet. Den Traum vom Reichtum aber hatte P. nicht aufgegeben. Noch Anfang August, im Schatten der aufkommenden Neuwahlen, rief er bei der BerlinHyp und sagte: „Ich habe Material, das sie im Zusammenhang mit Ausbis interessieren könnte.“ Dafür wollte er Geld. Parallel dazu hatte P. auch Aubis im Visier: „Er wollte die erpressen“, so ein enger Freund. Im Polit-Thriller um die Aubis-Millionen träumte P. von der schnellen Mark.

Mitte August verliert sich die Spur. Es ist nicht bekannt, wo genau P. sich aufhielt. Offenbar hat er einige Open-Air-Konzerte besucht. Seine Wohnung am Mierendorff-Platz hatte er vor lauter Angst geräumt. Als die Polizei – die BerlinHyp hatte sie über Ps Angebot informiert – dort am vierten September mit einem Durchsuchungsbefehl erschien, hatte sich P. längst zu einem Freund im Prenzlauer Berg abgesetzt. Dort wohnte er im dritten Stockwerk eines Altbaus. Auch hier sagte er immer wieder: Ich habe Angst vor den Aubis-Leuten.

Dann kam der Abend des 28.September. Mit den Worten „Ich gehe zu Birgit“, verabschiedete sich P. aus der Wohnung seines Freundes. Bei Birgit ist er nie angekommen. Der Hamburger verschwand einfach. Was Ermittler erstaunt: Fast sechs Wochen lang wurde P. nicht vermisst gemeldet. Eine Anfrage seines Vaters in Hamburg wurde dort abgeschmettert („Sind nicht zuständig“). In Berlin lösten erst die Sonderermittler vom LKA 3, die sich mit dem Bankenskandal befassen, einen Vermisstenvorgang aus. Am 12. November!

Eine für die Ermittler womöglich verhängnisvolle Verzögerung. Denn zuvor hatten Sicherheitskräfte am Flughafen Tegel bei einer Sicherheits-Kontrolle der Schließfächer (wegen der Terror-Gefahr nach dem 11.September) in einem von P. angemieteten Fach ein Packet entdeckt. Die Chancen sind groß, dass sich darin Unterlagen zum Aubis-Komplex befanden. Doch die ahnungslosen Konrolleure konnten nur bemerken, dass das Schließfach nicht bezahlt worden war. Prompt schickten sie ihren Fund an denjenigen, dessen Namen sie auf dem Packpapier fanden: Sven Asmus, den Geschäftsführer des Leipziger Energieversorgungs-Unternehmens ELPAG. Diese Firma steht nicht nur bei Mitgliedern des Aubis-Untersuchungsausschuss unter dem Verdacht, ein heimlicher Teil des Aubis-Geflechts zu sein. Asmus bestreitet dies bisher ebenso wie Wienhold und Neuling.

Als P. schließlich am 29.November gefunden wurde, stellte seine Leiche die Ermittler vor Rätsel. Der Tote hatte keinerlei Papiere bei sich, nichts, was zur Identifizierung hätte beitragen können. Die Durchsuchung des Waldstücks brachte den Ermittlern ein dürftiges Ergebnis. Im weiteren Umkreis des Fundorts der Leiche fanden die Beamten zwei Papierschnipsel. Die Polizeitechnische Untersuchung ergab, dass die Schnipsel „zeitnah“ am Tatort verloren wurden. Die auf den Schnipseln erkennbare Telefonnummer führten die Beamten zu einem türkischen Kampfsportler.

Als die Polizei ihn befragte, erhoffte sie sich lediglich Hinweise auf die Identität der erhängten Leiche. Denn da eine Obduktion keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung erbracht hatte, galt Selbstmord als ausgemacht. Nur der Name des Toten fehlte, um die Akte zu schließen. Der Zeuge konnte den Beamten dabei nicht helfen. Statt dessen verwickelte er sich in Widersprüche. Mal sagte er, die Zettel stammten von ihm, ein anderes Mal bestritt er. Einmal gab er zu, sich zur Tatzeit am Fundort befunden zu haben, wenige Minuten später bestritt er auch das. Die Beamten schickten den Mann ratlos nach Hause, betrachteten ihn nun aber als verdächtig.

Doch die anschließenden Ermittlungen brachten keine Ergebnisse. Es gab einfach keine Verbindung zwischen dem Kampfsportler und dem Toten. Vorgestern erschien der verheiratete Türke noch einmal bei der Polizei am Tempelhofer Damm und präsentierte eine neue Erklärung: Er habe ein Verhältnis und sich am lauen Morgen des 29. September mit seiner Geliebten im Wald vergnügt. Nun überprüft die Staatsanwaltschaft das erotische Alibi des Mannes.

Doch selbst wenn sich die Aussage des Verdächtigen bestätigt, steht die Staatsanwaltschaft vor einem ganzen Komplex offener Fragen: Warum ging P. mit absolut leeren Taschen aus dem Haus? Wie gelangte er zum Königsweg? Warum hinterließ er weder einen Abschiedsbrief noch Hinweise auf die von ihm versteckten Disketten und Unterlagen? Bislang hat die Staatsanwaltschaft lediglich acht kopierte Datenträger aus dem Besitz Petrolls. Warum fühlte er sich von den Aubis-Verantwortlichen bedroht? Wieso hatte er soviel Bargeld zur Verfügung? Warum entdeckte die Polizei während einer Haussuchung bei Sven Asmus nichts von dem Inhalt des „Tegeler Pakets“?

Auch die Frage nach einem Selbstmord-Motiv ist nicht überzeugend geklärt. Zwar galt P. als jemand der oft „himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt“ war, und er hatte einen in der Vergangenheit bereits einen Selbstmordversuch gemacht. Aber das Verhältnis zu seiner Familie war gerade in letzter Zeit besser geworden, er hatte Anfang 2001 einen Ski-Urlaub mit seiner Tochter gemacht. P. hatte außerdem Zukunftspläne, wollte geschäfte aufbauen, hatte bereits Räume gemietet. Und noch am Abend seines Verschwindens hatte er seinem Vater am Telefon versichert: Es geht mir gut.

Was ist an diesem Abend geschehen? Ist P. betäubt und erhängt worden? „Wenn man dafür etwa Chloroform nimmt, dann verfliegt das hinterher schnell und ist nicht nachweisbar“, versicherte ein erfahrener Mord-Ermittler der Berliner Morgenpost. Setzte P.seinem Leben selbst ein Ende? Mord oder Selbstmord? Die Frage scheint offen.

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